Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
Richtung. Mark hatte ein langes Gesicht, und sein Haaransatz wich langsam zurück, wodurch sein Kopf eine Art hoher Kuppel und eine breite Stirn bekam. Er trug eine Brille mit Horngestell, hinter der seine Augen grau leuchteten. Obwohl er streng genommen nicht attraktiv war, meinten es die Fernsehkameras erstaunlich gut mit ihm. Er hatte seine Anzugjacke abgelegt, und während ich ihn musterte, sah ich ihn die Krawatte lockern und anschließend die Ärmel seines frischen weißen Hemds aufrollen. Die Geste legte nahe, dass er trotz seines zugeknöpften Aussehens bereit war, sich für seine Wählerschaft ins Zeug zu legen. Es war die Art von Weichzeichnerbild, die vermutlich später in einem seiner Werbespots zu bewundern sein würde. Die Zielrichtung seiner Kampagne war schamlos inszeniert: Babys, alte Menschen und die amerikanische Flagge, die zu patriotischer Musik wehte. Seine Gegner wurden in grobkörnigem Schwarzweiß dargestellt, darüber Schlagzeilen im Boulevardstil, die ihre Falschheit beklagten. Im Geiste versetzte ich mir ein paar Ohrfeigen, weil ich eine solche Zynikerin war. Marks Frau Laddie und sein Sohn Malcolm standen ein paar Meter weiter weg und plauderten mit einem anderen Paar.
Laddie war die beispielhafte politische Gefährtin: sanftmütig, mitfühlend und so zurückhaltend in ihren Gefühlsäußerungen, dass die meisten Leute nie ahnten, welche Macht sie eigentlich besaß. Ihre Augen waren von kühlem Haselnussbraun und ihr Haar blond gesträhnt, vermutlich um erste Anzeichen von Grau zu überdecken. Ihre Nase war etwas zu groß, was sie vor Perfektion bewahrte und damit in gewissem Maße liebenswert machte. Da sie noch nie hatte arbeiten müssen, widmete sie ihre Zeit einer Reihe würdiger Zwecke — der Symphonie, der Humanen Gesellschaft, dem Kunstbeirat und zahlreichen Wohltätigkeitsorganisationen. Da ihr Gesicht eines der wenigen mir bekannten im Raum war, erwog ich, hinüberzugehen und ein Gespräch mit ihr anzufangen. Ich wusste, sie würde zumindest so tun, als hörte sie zu, selbst wenn sie nicht mehr genau wusste, wer ich eigentlich war.
In fünf Jahren würde Malcolm umwerfend aussehen. Schon jetzt besaß er eine gewisse jungenhafte Schönheit: dunkle Haare, dunkle Augen, einen üppigen Mund und eine lässig-träge Haltung. Ich habe eine Schwäche für diesen Typ, obwohl ich mich meist vor derart gut aussehenden Männern hüte, weil sie sich oft als treulos erweisen. Er schien sich der Damen durchaus bewusst zu sein, die ihm ihrerseits mehr als nur beiläufige Beachtung schenkten. Er trug Desertboots, ausgebleichte Jeans, ein blassblaues Hemd und einen dunkelblauen Blazer. Er wirkte ausgeglichen, heiter und als sei er daran gewöhnt, Partys zu besuchen, die die großkotzigen Freunde seiner Eltern gaben. Er sah aus wie ein zukünftiger Börsenmakler, vielleicht auch ein Warenterminhändler. Eines Tages würde er in den Talkshows der Wirtschaftskanäle landen und über Defizite, neue Märkte und aggressives Wachstum debattieren. Nach der Sendung würde die stets durchsetzungsfähige Moderatorin ihn bei ein paar Drinks abschleppen und sein Babyhirn in Grund und Boden vögeln, allerdings streng auf Gebührenfreiheit bedacht und ohne Zuschlag für verfrühtes Abheben.
»Entschuldigen Sie bitte.«
Ich drehte mich um. Die Frau zu meiner Rechten reichte mir ihr leeres Glas, das ich ohne nachzudenken nahm. Obwohl sie eindeutig in meine Richtung sprach, brachte sie es fertig, mit mir zu reden, ohne direkten Blickkontakt aufzunehmen. Sie war eine hagere, hinreißende Fünfzigerin mit einem langen, makellosen Gesicht und aufgeföhntem rotem Haar. Sie trug einen langärmligen schwarzen Seidenbody und dermaßen enge Blue Jeans, dass ich mich fragte, wie sie überhaupt atmen konnte. Bei ihrem flachen Bauch, der zierlichen Taille und den mageren Hüften begann ich zu mutmaßen, sie habe schon so viele Fettabsaugungen hinter sich, dass man daraus einen kompletten zweiten Menschen hätte herstellen können. »Ich brauche einen frischen Drink. Gin Tonic. Aber diesmal Bombay Saffire und kein Eis, bitte.«
»Bombay Saffire. Kein Eis.«
Sie beugte sich näher zu mir. »Meine Liebe, wo ist denn das nächste Klo? Ich mach’ mir gleich in die Hosen.«
»Das Klo? Mal sehen.« Ich zeigte auf die gläserne Schiebetür, die ins Esszimmer führte. »Durch die Glastür. Links um die Ecke. Dann ist es die erste Tür rechts.«
»Glutheißen Dank.«
Ich stellte ihr leeres Glas in eine Topfpalme und sah ihr
Weitere Kostenlose Bücher