Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
Betrachtung vertrug. Rückblickend vermute ich, dass er uns für voreingenommen und abweisend hielt, während wir in Wirklichkeit Angst vor dem hatten, was wir in seinen Augen sahen. Besser wegsehen als diese Qual erdulden.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
»Hi, Eric. Ich bin Kinsey Millhone. Wir haben vor Jahren immer gemeinsam im Tonk draußen in Colgate herumgehangen.«
Ich sah, wie seine Miene sich aufhellte und heiter wurde, als er begriff, wer ich war. »He. Na klar. Irrtum ausgeschlossen. Wie geht’s denn immer so?« Er beugte den linken Arm aus dem Fenster, und wir berührten uns kurz an den Fingerspitzen, das einem Handschlag Ähnlichste, das wir von getrennten Fahrzeugen aus bewerkstelligen konnten. Seine dunklen Augen waren klar. In seiner Trinkerphase war er hager gewesen, aber der Alterungsprozess hatte ihm zu den nötigen sechs oder sieben Kilo verhelfen. Der Erfolg stand ihm gut. Er wirkte solide und diszipliniert.
»Du siehst fantastisch aus«, sagte ich. »Was ist denn mit deinen Haaren passiert?«
Er betrachtete sich selbst im Rückspiegel und fuhr sich mit der Hand über seinen glatt rasierten Schädel. »Gefällt’s dir? Es fühlt sich seltsam an. Ich habe es mir vor einem Monat abrasiert und bin mir immer noch nicht ganz sicher.«
»Ich schon. Es ist besser als der Pferdeschwanz.«
»Tja, das kann man wohl sagen. Was führt dich hierher?«
»Ich suche meinen Exmann und dachte, du könntest vielleicht wissen, wo ich ihn finde.« Die Möglichkeit schien abwegig, und ich fragte mich, ob er mich über das Thema ausquetschen würde, aber er ließ es unkommentiert.
»Magruder? Den habe ich seit Jahren nicht gesehen.«
»Das hat Dixie auch gesagt. Ich habe vorhin mit Mickeys Freund Shack gesprochen, und da kamen wir auf euch beide. Du erinnerst dich doch an Pete Shackelford?«
»Vage.«
»Er meinte, ihr könntet etwas wissen, aber dem ist wohl nicht so, oder?«
»Tut mir Leid, dass ich dir nicht helfen kann«, erwiderte Eric. »Worum geht’s denn?«
»Das weiß ich gar nicht genau. Es sieht so aus, als hätte ich eine Schuld zu begleichen, und ich käme gern mit ihm ins Reine.«
»Ich kann mich umhören, wenn du willst. Ich sehe immer noch ein paar von den Jungs im Fitnessstudio, und einer von ihnen könnte etwas wissen.«
»Danke, aber vermutlich schaffe ich es selbst. Ich rufe seinen Anwalt an, und wenn dabei nichts herauskommt, habe ich noch ein paar andere Ideen auf Lager. Ich weiß, wie sein Hirn funktioniert. Mickey denkt immer ziemlich um die Ecke.«
Eric fixierte mich, und ich spürte, wie etwas Unausgesprochenes zwischen uns waberte wie der Schatten einer vorüberziehenden Wolke. Seine Stimmung schien sich zu wandeln, und er fing mit einer Armbewegung das baumbestandene Anwesen ein, das uns auf allen Seiten umgab. »Und, was sagst du? Vier Hektar und komplett abbezahlt — es gehört alles mir. Na ja, oder vielmehr zur Hälfte, wenn man die kalifornischen Gesetze über Gemeineigentum berücksichtigt.«
»Es ist herrlich. Du hast viel erreicht.«
»Danke. Ich hatte Hilfe.«
»Dixie oder die AA?«
»Ich würde sagen, beide.«
Der Wagen eines Installateurs erschien in der Auffahrt und hielt hinter Erics Van an. Eric blickte nach hinten und winkte, um dem Fahrer zu verstehen zu geben, dass er ihn wahrgenommen hatte und nicht den ganzen Tag verplaudern würde. Er wandte sich wieder zu mir. »Warum wendest du nicht und kommst noch mal mit ins Haus? Wir könnten gemeinsam zu Abend essen und ein paar Neuigkeiten austauschen.«
»Ich würde ja gern, aber es passt schlecht. Dixie muss Bewerbungsgespräche führen, und ich habe noch einiges zu erledigen. Vielleicht ein andermal. Ich rufe an, dann können wir etwas ausmachen.« Ich legte den ersten Gang ein.
»Prima. Tu das. Versprochen?«
»Pfadfinderehrenwort.«
Der Fahrer des Lieferwagens hinter ihm hupte ungeduldig. Eric warf ihm einen Blick zu und winkte erneut. »War jedenfalls nett, dich zu sehen. Benimm dich.«
»Gleichfalls.«
Er ließ sein Fenster hoch, und ich konnte sehen, wie er mit Hilfe einer Vorrichtung am Lenkrad Gas gab. Es war das Einzige, was daran erinnerte, dass man ihm beide Beine amputiert hatte. Er hupte kurz beim Losfahren, während ich meinen Weg die Einfahrt hinab fortsetzte und wir uns in entgegengesetzte Richtungen bewegten.
Ich fuhr in die Stadt und dachte über das Wesen der göttlichen Komödie nach. Zwei meiner lang gehegten Überzeugungen waren mir in den letzten Stunden geraubt
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