Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
seiner alten Anwaltskanzlei.
Ich wählte die Nummer von Mark Bethels Büro, wo sich seine Sekretärin meldete und sofort fragte: »Darf ich Sie auf die Warteschleife legen?«
Als ich zustimmte, war sie bereits weg. Ich bekam eine verjazzte Version von Scarborough Fair zu hören.
Marks Sekretärin meldete sich wieder. »Danke, dass Sie gewartet haben. Mein Name ist Judy. Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja, hallo, Judy. Hier ist Kinsey Millhone. Ich bin eine alte Bekannte von Mark. Ich glaube, wir haben uns vor zwei Jahren auf der Weihnachtsfeier der Bethels kennen gelernt. Ist Mark zufällig gerade da?«
»Ach, hallo, Kinsey. Ich kann mich an Sie erinnern«, sagte sie. »Nein, er ist bei einer Ausschusssitzung und kommt wahrscheinlich heute nicht mehr ins Büro. Möchten Sie ihn morgen früh anrufen, oder kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Vielleicht«, sagte ich. »Ich versuche, Kontakt zu meinem Exmann zu bekommen. Mickey Magruder war ein früherer Klient von Mark.«
»Oh, Mickey kenne ich«, sagte sie, und auf der Stelle fragte ich mich, ob sie ihn im biblischen Sinne »kannte«.
»Wissen Sie, ob Mark eine aktuelle Adresse und Telefonnummer von ihm besitzt?«
»Moment, ich sehe mal nach. Ich weiß, dass wir etwas haben, weil er vor zwei Monaten hier angerufen hat und ich selbst mit ihm gesprochen habe.« Ich hörte, wie sie raschelnd durch ihr Buch blätterte.
»Ah, da haben wir es.« Sie nannte eine Adresse am Sepulveda, aber es war eine andere Hausnummer als die, die ich hatte. Die Ziffern waren die gleichen, nur war die Reihenfolge eine andere, was typisch für Mickey war. In seinem halbparanoiden Zustand gab er einem zwar die richtigen Daten, aber er stellte sie so um, dass man ihn damit nicht ausfindig machen konnte. Für ihn war eine Adresse verdammt noch mal Privatsache, und Telefone waren für seine Bequemlichkeit da, nicht für die anderer Leute. Wenn ihn andere nicht anrufen konnten, was kümmerte es ihn? Ich weiß nicht, wie er es schaffte, seine Post zugestellt oder eine Pizza geliefert zu bekommen. Aber diese Dinge interessierten ihn nicht, wenn seine Ungestörtheit auf dem Spiel stand. Judy fing wieder an zu sprechen, und die Telefonnummer, die sie mir nannte, war identisch mit der in meinem Adressbuch.
»Die können Sie durchstreichen«, sagte ich. »Ich habe sie vor kurzem probiert, aber sie ist abgemeldet worden. Ich dachte, Mickey wäre vielleicht umgezogen oder hätte die Nummer gewechselt.«
Ich hörte, wie sie zögerte. »Das sollte ich jetzt vermutlich nicht sagen. Mark wird fuchsteufelswild, wenn ich über einen Klienten spreche, also verraten Sie ihm bitte nicht, dass ich es verraten habe...«
»Natürlich nicht.«
»Als Mickey anrief — das war so etwa Mitte März — hat er gefragt, ob er sich Geld leihen kann. Ich meine, nicht dass er mich gefragt hätte. Ich habe nur später davon gehört, nachdem Mark mit ihm gesprochen hatte. Mark sagte, er hätte sein Auto verkaufen müssen, weil er sich Unterhalt und Versicherung nicht mehr leisten konnte, geschweige denn Benzin. Er hatte derartige finanzielle Probleme, dass ihn nicht einmal Mark rauspauken konnte.«
»Das klingt aber nicht gut. Hat Mark ihm denn Geld geliehen?«
»Da bin ich mir nicht sicher. Könnte sein. Mickey lag Mark immer besonders am Herzen.«
»Könnten Sie die Abschriften der Anrufe durchsehen und schauen, ob Mickey eine Nummer hinterlassen hat, unter der Mark ihn erreichen konnte?«
»Ich sehe gerne für Sie nach, aber ich kann mich erinnern, dass ich ihn damals gefragt habe, und er meinte, Mark wüsste schon Bescheid.«
»Also hat Mark eventuell eine andere Nummer?«
»Möglich wäre es, glaube ich. Ich kann ihn fragen und bitten, dass er Sie zurückruft.«
»Da wäre ich Ihnen dankbar. Er kann mich morgen anrufen, dann sehen wir weiter.« Ich gab ihr meine Nummer und verabschiedete mich.
Mein Abend gestaltete sich ereignislos: Abendessen mit Henry in Rosie’s Tavern, einen halben Block entfernt. Danach rollte ich mich mit einem Buch zusammen und las, bis ich entschlief, also vermutlich zehn Minuten später.
Sekunden bevor er zu klingeln begann, stellte ich den Wecker ab. Ich putzte mir die Zähne, schlüpfte in den Jogginganzug und machte mich auf zu meinem Fünfkilometerlauf. Der Fahrradweg am Strand war vom gewohnten Frühjahrsnebel eingehüllt, der Himmel zeigte ein gleichförmiges Grau, und das Meer mischte sich am Horizont unter ihn, als wäre ein Streifen durchsichtiger Plastikfolie
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