Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
siebenundzwanzigsten März um 13.27 Uhr getätigt worden und hatte, wie aufgeführt, volle dreißig Minuten gedauert.
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Ich weiß nicht, wie ich den Rest des Gesprächs überstanden habe. Schließlich gingen die Polizisten, nicht ohne mir für all die Hilfe, die ich ihnen gewährt hatte, unehrlichen Dank ihrerseits abzustatten, und nicht ohne unehrliche Versicherungen meinerseits, mich sofort bei ihnen zu melden, wenn ich irgendetwas zu ihren Ermittlungen beizutragen hatte. Sowie die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, sauste ich ins Badezimmer, wo ich in die leere Badewanne stieg und sie diskret beobachtete. Ich hielt mich außer Sichtweite, während die Detectives Claas und Aldo leise miteinander redeten, in einen Wagen stiegen, der nach Behördeneigentum aussah, und davonfuhren. Ich hätte viel dafür gegeben, zu erfahren, was sie sprachen — falls es um Mickey oder mich ging. Womöglich plauderten sie auch über Sport, was mich nicht die Bohne interessiert.
Sobald sie weg waren, kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück und blätterte in meinem Tischkalender die Seite des siebenundzwanzigsten März auf. Dieser Donnerstag war vollkommen leer, ebenso wie die Tage davor und danach: keine Termine, keine Verabredungen, kein Eintrag über Ereignisse, ob beruflicher oder privater Natur. Wahrscheinlich hatte ich den Tag im Büro verbracht und Gott weiß was getan. Ich hatte gehofft, mein Terminkalender würde meine Erinnerung schlagartig in Gang setzen, doch fürs Erste war ich ratlos. Ich wusste nur, dass ich weder am siebenundzwanzigsten März noch an irgendeinem anderen Tag in den letzten Jahren mit Mickey gesprochen hatte. War jemand in meine Wohnung eingebrochen? Das war ein unheimlicher Gedanke, aber was gab es schon für eine andere Erklärung? Micky hätte meine Nummer gewählt und mit jemand anders gesprochen haben können. Denkbar war auch, dass jemand anders als Mickey den Anruf aus Mickeys Wohnung getätigt und eine Verbindung hergestellt hatte, die in Wirklichkeit nicht existierte. Wer sollte einen derartigen Aufwand betreiben? Eine oder mehrere Personen, die vorhatten, meinen Exmann zu erschießen und alles auf mich hinweisen zu lassen.
In der Nacht regnete es, es war einer dieser seltenen tropischen Stürme, die manchmal ohne Warnung von Hawaii herüberziehen. Ich wachte um 2.36 Uhr vom Geräusch der schweren Regentropfen auf, die auf mein Oberlicht prasselten. Die Luft, die durch das offene Fenster wehte, roch nach Meer und Gardenien. Der Mai ist in Kalifornien meist kühl und trocken. In den darauf folgenden Sommermonaten kümmert die Vegetation ohne Feuchtigkeit vor sich hin, ein Austrocknungsprozess, der die Büsche so zerbrechlich macht wie altes Pergament. Die ineinander übergehenden Hügel werden golden, während die Straßenränder von den am Bankett wachsenden Wolken wilden Senfs mattgelb leuchten. Im August klettern die Temperaturen bis auf dreißig Grad, und die relative Luftfeuchtigkeit sinkt. Winde ziehen die Berge herab und drängen sich durch die Canyons. Mit der Mischung aus umherziehenden Obdachlosen, den Santa-Ana-Winden und der ausgetrockneten Landschaft ist die Bühne für das Streichholz des Brandstifters bereitet. Mitunter schaffen Regengüsse vorübergehende Erleichterung und zögern das Unvermeidliche ein oder zwei Wochen hinaus. Die Ironie ist nur, dass der Regen wenig mehr tut, als weiteres Wachstum anzuregen, was der Natur wiederum zusätzlichen Brennstoff liefert.
Als ich eine Minute vor sechs erneut aufwachte, war der Sturm vorüber und hatte glänzenden Asphalt zurückgelassen. Ich zog meine Joggingkluft an und machte mich auf zu meinem Dauerlauf. Danach kehrte ich nur so lange in meine Wohnung zurück, um eine Segeltuchtasche ins Auto zu werfen und zum Fitnessstudio zu fahren. Ich arbeitete eine Stunde lang an den Gewichten und absolvierte mein gewohntes Programm. Obwohl ich erst seit zwei Monaten wieder trainierte, sah ich schon Resultate: Schultern und Bizeps kehrten zur alten Form zurück.
Um neun war ich wieder zu Hause. Ich duschte, frühstückte, stopfte ein paar Sachen in mein Hüfttäschchen, nahm meine Umhängetasche, hinterließ eine Nachricht an Henrys Tür und fuhr in Richtung L.A. los. Der Verkehr floss schnell, und die Autos rasten in südlicher Richtung die 101 entlang. Zu dieser Tageszeit waren auch zahlreiche Nutzfahrzeuge unterwegs: Pickups und Lieferwagen, Schwerlaster und Möbelwagen, leere Schulbusse und Sattelschlepper, die neue Autos
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