Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
jedes in einer Kabine in Sichtweite der Schwesternstation. Die Betten waren durch leichte, grün-weiße Vorhänge, von denen die meisten zugezogen waren, voneinander getrennt. Dort lagen die Patienten, die am Abgrund schwebten und nur noch durch ein ganz dünnes Band mit dem Leben verbunden waren. Blut und Galle, Urin, Rückenmarksflüssigkeit, sämtliche Strömungen im Körper wurden registriert und aufgezeichnet, während die Seele weiterzog. Manchmal, zwischen zwei Atemzügen, stahl sich ein Patient davon und reihte sich in den größeren Strom ein, aus dem wir alle kommen und in den wir alle zurückkehren müssen.
Aldo trat wieder an meine Seite und bugsierte mich um die Schwesternstation herum an das Bett, wo Mickey lag. Ich erkannte den Mann nicht, doch ein rascher Blick zu Aldo versicherte mir, dass er es war. Er atmete nicht selbstständig. Ein breiter Streifen Klebeband bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts. Sein Mund stand offen und war durch einen durchsichtigen blauen Schlauch, der etwa den gleichen Durchmesser hatte wie ein Staubsaugerschlauch, mit einem Beatmungsgerät verbunden. Der obere Teil des Betts war erhöht, als würde er permanent zur Schau gestellt. Er lag dicht an der einen Seite und berührte beinahe die Schiene, die wie die Gitter eines Kinderbetts hochgezogen war, um ihn zu sichern. Er trug eine enge Kappe aus Verbandsstoff. Die Schusswunde hatte ihm zu zwei dunkel verfärbten Augen verholfen, geschwollen und blau angelaufen, als wäre er in einen Faustkampf verwickelt gewesen. Sein Teint war grau. Im Rücken der einen Hand steckte ein Schlauch, der Lösungen aus zahlreichen Beuteln einträufelte, die an einem Infusionsständer hingen. Ich konnte die Tropfen einen nach dem anderen zählen, eine chinesische Wasserfolter, die dazu bestimmt war, Leben zu erhalten. Ein zweiter Schlauch schlängelte sich unter der Decke hervor und mündete in einen großen Urinbehälter unter dem Bett. Was ich an Haar sehen konnte, wirkte spärlich und fettig. Seine Haut trug einen dünnen Feuchtigkeitsfilm. Die jahrelangen Sonnenschäden traten nun hervor wie ein Bild auf einem Film, der in Entwicklerflüssigkeit getaucht wird. An den Rändern seiner Ohren konnte ich zarten Flaum erkennen. Seine Augen waren nicht ganz geschlossen. Durch die schmalen Schlitze sah ich, wie er einen unsichtbaren Film verfolgte oder vielleicht Zeilen gedruckten Texts. Wo war sein Geist, während sein Körper so still dalag? Ich schaltete meine Gefühle ab, indem ich mich auf die Geräte konzentrierte, die sein Bett umstanden; ein Rollwagen, ein Waschbecken, ein Mülleimer aus Edelstahl mit Tretmechanismus, ein Rollstuhl, ein Handschuhspender und ein Kasten mit Papierhandtüchern; Gebrauchsartikel, die kaum vom Tod kündeten.
Die Anwesenheit von Detective Aldo verlieh unserem Wiedersehen ein seltsam unwirkliches Flair. Mickeys Brustkorb hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen, dank einem Blasebalg, der seine Lungen zwang, sich immer wieder mit Luft zu füllen. Unter seinem Krankenhaushemd sah ich ein weißes Schlauchhemd aus Verbandsstoff. Als ich ihn kennen gelernt hatte, war er sechsunddreißig gewesen. Jetzt war er dreiundfünfzig, genauso alt wie Robert Dietz. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob meine Beziehung zu Dietz ein unbewusster Versuch gewesen war, den Bruch mit Mickey zu kitten. Waren meine inneren Mechanismen derart vordergründig?
Ich starrte auf Mickeys Gesicht, sah ihm beim Atmen zu und musterte die Manschette zum Blutdruckmessen, die an seinem einen Arm befestigt war. In gewissen Intervallen blies sie sich plötzlich auf und fiel dann mit einem pfeifenden Geräusch wieder in sich zusammen. Danach erschien die digitale Anzeige auf dem Monitor über seinem Kopf. Sein Blutdruck schien stabil zu sein: 125/80, der Puls bei 74. Es ist peinlich, sich an die Liebe zu erinnern, wenn das Gefühl abgestorben ist: all die Leidenschaft und Romantik, die Sentimentalität und die sexuellen Exzesse. Später muss man sich fragen, was zum Teufel man sich dabei gedacht hat. Mickey war mir solide und sicher vorgekommen, als jemand, dessen Fachwissen ich bewunderte, dessen Ansichten ich schätzte, dessen Selbstsicherheit ich beneidete. Ich idealisierte den Mann, ohne auch nur zu erkennen, was ich tat, nämlich meine Projektion für die nackte Wahrheit zu halten. Ich begriff nicht, dass ich in ihm die Eigenschaften suchte, die mir fehlten oder die ich noch nicht entwickelt hatte. Ich hätte bis zum letzten Atemzug
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