Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
brennt?«
»Niemand achtet darauf. Die meisten dieser Leute arbeiten, also liegen sie normalerweise um zehn im Bett. Und wenn es zu spät wird, können Sie ohne weiteres bei uns übernachten. Wir haben die einzige Vierzimmerwohnung im Haus. Das Gästezimmer gehört zwar eigentlich Dort, aber sie hätte bestimmt nichts gegen Ihre Gesellschaft einzuwenden. Wir haben recht nett über Sie geplaudert, nachdem Sie gegangen waren.«
Ich gab meinen Widerstand auf und holte tief Atem. »Na gut. Ich mach’s. Bis gleich.«
Sobald ich aufgelegt hatte, schlüpfte ich in Jeans, Rollkragenpullover und Turnschuhe, die leicht und leise waren, also ideal für nächtliche Streifzüge. Wenigstens war ich schon in Mickeys Wohnung gewesen und wusste, was ich zu erwarten hatte. Ich besaß immer noch den Schlüssel, den ich von seiner Hintertür abgezogen hatte, aber für den Notfall würde ich auch meinen Dietrich mitnehmen. Da ich keine Lust hatte, in den frühen Morgenstunden nach Hause zu fahren, warf ich das übergroße T-Shirt hinein, das ich als Nachthemd trage. Zahnbürste, Zahnpasta und frische Unterwäsche habe ich immer in meiner Umhängetasche bei mir. Den Rest des Matchsacks füllte ich mit Werkzeug: Gummihandschuhe, meinen batteriebetriebenen Dietrich, eine Bohrmaschine mit verschiedenen Einsätzen, einen Schraubenzieher, Glühbirnen, Zange und Spitzzange, Vergrößerungsglas und Zahnspiegel sowie zwei Taschenlampen: eine normale und eine mit langem, abgewinkeltem Schaft, mit der ich in die schwer zu erreichenden Ecken leuchten konnte, die Mickey so liebte. Ich vermutete zwar, dass ich den größten Teil seiner Verstecke bereits entdeckt hatte, aber ich wollte mich nicht darauf verlassen, zumal dies vielleicht meine letzte Gelegenheit zum Schnüffeln sein würde. Außerdem packte ich einen zweiten Matchsack aus Segeltuch ein, den ich zusammenfaltete und in den ersten legte. Ich hatte vor, Mickeys heiße Ware mitzunehmen und bei mir zu Hause aufzubewahren, bis er mir sagen konnte, was damit geschehen sollte.
Ich hielt an einer Tankstelle, um voll zu tanken. Während der Tankwart die Windschutzscheibe wischte und den Ölstand nachsah, ging ich auf einen Sprung ins »Erfrischungscenter« und kaufte mir ein großes, ekelhaftes Sandwich — Käse und undefinierbares Fleisch — und einen großen Styroporbecher Kaffee, der nur leicht verbrannt roch. Ich erstand eine Extratüte Milch, goss etwas von der schwarzen Flüssigkeit weg und füllte den Becher bis zum Rand mit Milch. Dann fügte ich zwei Tütchen Zucker hinzu, nur um zu gewährleisten, dass mein Hirn ordentlich funktionierte.
Um zehn nach zehn war ich unterwegs, die Fenster des VWs heruntergekurbelt, während der Motor unter der Anstrengung jaulte, konstant hundert zu fahren. Ich aß beim Fahren und schaffte es sogar, zu verhindern, dass mir der Kaffee auf den Pullover schwappte. Es waren erstaunlich viele Autos auf der Straße, dazwischen immer wieder Sattelschlepper und Wohn-mobile, und wir alle rasten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit dahin. Das Gefühl der Eile wurde durch die Dunkelheit, die uns umgab, noch vervielfältigt. Front- und Heckscheinwerfer bildeten sich immer wieder wandelnde Muster. Auf dem Stück zwischen Santa Teresa und Olvidado hing der Mond über dem Wasser wie eine Alabasterkugel auf einer silbernen Pyramide. Die Wellen plätscherten wie lose in der Brandung schäumende Perlen an den Strand. Der uralte Geruch nach Seetang zog durch die Nachtluft. Küstenorte tauchten auf und verschwanden wieder, während sich die Meilen summierten. Von Hügeln, die bei Tag sichtbar waren, blieben nur noch Stecknadelköpfe aus Licht, die sich die Abhänge hinaufzogen.
Ich erklomm die Steigung von Camarillo und glitt auf der anderen Seite in den westlichsten Ausläufer des San Fernando Valley hinab. Es waren keine Sterne zu sehen. Die von Los Angeles ausgehende Lichtverschmutzung verlieh dem Nachthimmel eine geisterhafte Beleuchtung, wie ein von Smog unterlegtes Nordlicht. Ich fuhr auf der 405 in südlicher Richtung bis zur National und bog dann nach Osten ab. Auf dem Sepulveda schlug ich links ein und verlangsamte mein Tempo, während ich in der fremden nächtlichen Umgebung nach Mickeys Haus Ausschau hielt. Ich parkte draußen auf der Straße und nahm Umhängetasche und Matchsack mit. Dann schloss ich das Auto ab und betete im Stillen darum, dass Karosserie, Reifen und Motor morgen früh nicht abmontiert und auf Nimmerwiedersehen verschwunden wären.
In
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