Kinsey Millhone 17 - Totenstille - Q wie Quittung
Abendessen nahm ich auf dem Bett sitzend zu mir, den Rücken gegen die Kissen gelehnt. Dabei schaute ich mir die Nachrichten an und fühlte mich absolut dekadent.
Kurz nach sieben rief ich im Krankenhaus an und sprach mit der Verwaltungskraft der Herzstation. Sie sagte, Dolan sei auf seinem Zimmer, falls ich ihn besuchen wollte, und das wollte ich natürlich.
Draußen herrschte völlige Dunkelheit und die Temperatur war massiv abgesunken, als ich aus meinem Zimmer kam und wieder zum Krankenhaus fuhr. Trotz des Streulichts, das kreisförmig über der Stadt lag, zeichneten sich die Sterne so deutlich ab wie Nadelstiche in schwarzem Zeichenpapier, wenn von der anderen Seite Licht hindurchscheint. Der Mond war noch nicht aufgegangen, doch ich konnte erkennen, wo sich die Dunkelheit lüften und die Wüste wie ein Silbertablett glänzen würde, sobald er am Himmel stand. Ich ließ den Wagen auf dem Krankenhausparkplatz und schritt zum zweiten Mal an diesem Tag durch die Eingangstüren. Innen war alles hell erleuchtet, und die Räumlichkeiten strahlten Wärme und Behaglichkeit aus. Die Halle war voller abendlicher Besucher. Am Geschenkeladen und an der Cafeteria vorbei ging ich zu den Aufzügen und fuhr in den ersten Stock. In sämtlichen Mehrbettzimmern, in die ich hineinspähen konnte, waren die Vorhänge zugezogen und die in der Ecke angeschraubten Fernsehgeräte spulten irgendeine Wiederholung ab. Das Abendessen war vermutlich gegen halb sechs serviert worden, und die Tabletts befanden sich jetzt in den Essenswagen, die nach wie vor auf den Fluren herumstanden. Immer wieder fiel mein Blick auf nur teilweise verspeiste Nahrungsmittel: grüne Bohnen aus der Dose und Salisbury-Steak (ein schönfärberischer Name für Hackbraten) sowie unzählige Päckchen zellophanverpackte Cracker. Plastikbecher mit zähen roten Würfeln Jell-O standen unangetastet da, und ich vermutete, die Ernährungsspezialistin würde sich die Haare raufen. Genau wie das Essen in Grundschulen sehen diese Mahlzeiten auf dem Papier besser aus als in den Augen der unglücklichen Betroffenen. Die Hälfte der Sachen landet im Müll.
Auf der Herzstation herrschte Ruhe, und die Beleuchtung war gedämpft. Dolan lag in einem Privatzimmer und war mit Schläuchen und Drähten an eine Reihe Monitore angeschlossen. Seine Vitalfunktionen ließen sich von einem digitalen Display ablesen, das aussah wie die Zeit- und Temperaturanzeigen an Bankgebäuden. Die Raumgestaltung sollte wohl stressmindernd wirken, denn die Farbgebung beschränkte sich auf dezente Blau- und blasse, beruhigende Grüntöne. Es gab eine Fensterfront und eine an der Wand befestigte Uhr, aber weder Fernseher noch Zeitschriften, die die tägliche Dosis an wirtschaftlichen Problemen, Morden, Katastrophen und tödlichen Unfällen herausposaunt hätten. Eine von Dolans Infusionen war abgenommen worden, und man sah den Bluterguss in seiner Armbeuge. Sein Eintagesbart ähnelte jetzt schon den gespreizten weißen Borsten einer Zahnbürste, mit der man im Badezimmer den Schmutz aus den Ecken geschrubbt hat. Zwei Sauerstoffschläuche aus farblosem Plastik führten aus seiner Nase. Davon abgesehen wirkte er munter; seine Gesichtsfarbe war okay, und ein Teil seiner Lebhaftigkeit war wieder hergestellt. Er sah müde aus, aber nicht halb tot. Jeden Moment konnte er unwirsch werden, weil weder Alk noch Zigaretten greifbar waren.
»Hey, Lieutenant, Sie sehen super aus. Wie fühlen Sie sich?«
»Besser. Sogar fast schon wie ein Mensch.«
Ich hörte ein Murmeln hinter mir, und als ich mich umwandte, stand eine Schwester in der Tür. Sie war etwa Mitte vierzig, hatte dunkle Augen und glänzende braune Haare mit goldblonden Strähnen. Sie trug Zivilkleidung, doch ihre Schuhe hatten Kreppsohlen, und ihr Namensschild wies sie als SCHWESTER CHRIS KOVACH aus. Sie sagte: »Entschuldigen Sie die Störung, aber am Schwesternzimmer steht ein Mann, der behauptet, mit Ihnen verwandt zu sein. Ich habe auf Ihr Krankenblatt geschaut, aber Sie haben ihn nicht als Kontaktperson für den Notfall oder als nächsten Angehörigen angegeben.«
Dolan sah verständnislos drein.
Fröhlich sagte ich: »Das muss dein Bruder Stacey sein. Als ich ihm am Telefon von deinem Herzinfarkt erzählt habe, hat er gemeint, er setzt sich sofort ins Auto und kommt her.« Ich wandte mich an Ms. Kovach. »Ich weiß, dass der Lieutenant nicht mehr als einen Besucher gleichzeitig haben soll, aber sein Bruder hat gerade eine Chemotherapie wegen
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