Kinsey Millhone 17 - Totenstille - Q wie Quittung
besitze.
Auf den ersten Blick erkannte ich, dass Tasha ein Vollprofi war. Zwar konnte ich nicht all die verschiedenen Arten von Kleister auf ihrem Gesicht identifizieren, aber sie hatte sich gekonnt bemalt. Ihre Haut hatte einen gesunden Glanz, auf ihren Wangen zeigte sich ein Hauch Pink, und ihre Augen wirkten riesig, weil sie so dichte Wimpern hatte. Ich sah, dass sie mich taxierte, während ich sie taxierte. Wir fingen gleichzeitig an zu lächeln, was die Vorstellung, uns selbst anzusehen, noch verstärkte. Unsere Zähne waren identisch.
Sie sagte: »Nach unserem Telefongespräch habe ich lange mit Mom geredet. Ihre Version der Ereignisse ist anders.«
»Ach, wirklich? Wie das?«
»Sie hat gesagt, deine Eltern wären in der Hoffnung auf eine Versöhnung zu Grand und Granddaddy aufgebrochen. Auf dem Weg dorthin sind sie umgekommen. Grand hat sich Vorwürfe gemacht. Tante Gin hat ihr auch Vorwürfe gemacht. Mom sagt, Grand hätte versucht, in Verbindung zu bleiben, aber Gin wollte nichts davon wissen. Schließlich hat Grand aufgegeben, aber erst, nachdem sie jahrelang versucht hatte, Kontakt zu knüpfen.«
»Schwachsinn. Das glaube ich nicht.«
»Ich verlange nicht, dass du es glaubst. Ich erzähle dir nur, was meine Mutter gesagt hat.«
»Ja, natürlich sagt sie das. Sie ist immer noch von Grand abhängig. Wie könnte man es sich leisten, schlecht von jemandem zu denken, der einem den Boden unter den Füßen wegziehen kann? Da tut man doch beinahe alles, um denjenigen in einem so guten Licht wie möglich zu sehen, ganz egal, was er getan hat.«
»Kinsey, wenn du wirklich rausfinden willst, was damals los war, dann darfst du nicht damit anfangen, dass du die Botschaften zurückweist, die du nicht hören willst. Jede Geschichte hat zwei Seiten. Deshalb gibt es ja Gerichte. Um Streitigkeiten zu schlichten.«
»Na prima. Vergleich es mit einem Rechtsstreit. Das bringt dir Punkte«, erwiderte ich. »Die meisten Leute finden Rechtsanwälte unerträglich. Ich bin eine der wenigen, die für diesen Beruf noch Respekt aufbringen.« Ich verstummte, starrte einen Moment auf den Boden und schüttelte dann den Kopf. »Tut mir Leid. Vergiss es. Ich wollte mich nicht wieder mit dir in die Haare kriegen.«
Tasha lächelte verhalten. »Ich hab dir ja gesagt, dass wir nicht miteinander reden können, ohne uns zu streiten.«
»Du provozierst mich.«
»Das ist nicht meine Absicht.«
»Ich weiß. Das Unangenehme ist, dass keine von uns konkrete Beweise hat. Wir können uns ›Hat sie doch! Hat sie nicht!‹ an den Kopf werfen, bis wir schwarz werden. Grands Wort steht gegen das von Tante Gin oder das von meiner Mutter gegen das von deiner Mom. Es gibt keine greifbaren Fakten. «
»Vermutlich nicht. Aber bewahr dir einen offenen Geist. Weiter will ich eigentlich gar nichts.«
»Ich fürchte, dafür ist es zu spät. Seit dem Tag, an dem ich Liza kennen gelernt habe, bin ich fest entschlossen. Ich war damals nicht interessiert, und ich bin es wahrscheinlich auch jetzt nicht.«
»Wenigstens verwendest du das Wort ›wahrscheinlich‹. Das ist doch ein Fortschritt, oder? Früher warst du unerbittlich. Jetzt bist du obstinat.«
»Und was soll das heißen?«
»Widerspenstig, aber nicht mehr so beinhart. Ein enormer Fortschritt.«
Der Kommentar wirkte herablassend, doch ich schüttelte ihn ab. Warum sollte ich beleidigt reagieren, wenn sie es vielleicht gar nicht so gemeint hatte? Ich sagte: »Es kommt mir vor wie eine unerledigte Angelegenheit, und das stört mich. Ganz egal, wie es ausgeht, ich bilde mir gern ein, dass ich das Richtige tue.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit. Wir müssen Rückschau halten und die Vergangenheit noch mal unter die Lupe nehmen. Das tut uns allen gut. Auf jeden Fall haben wir ja Zeit, um die Sache zu klären.«
»Bis jetzt zweiunddreißig Jahre.«
»Was machen dann noch zweiunddreißig weitere aus? Wir können einen seit Jahrzehnten schwelenden Streit nicht mit ein paar lockeren Gesprächen bereinigen.« Sie sah auf die Uhr und stand auf. »Ich muss wieder zur Arbeit. Bist du mit deiner Besichtigung fertig?«
Ich erhob mich. »Im Prinzip ja. Ich hatte gehofft, es würde meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, aber da regt sich nichts.« Wir blieben beide gleichzeitig stehen und klopften uns die Hosenböden aus.
Auf dem Weg zur Haustür machten unsere Schuhe knirschende Geräusche auf dem Schmutz, der sich auf dem Marmorfußboden angesammelt hatte. »Wie findest du das Haus?«, fragte
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