Kinsey Millhone 17 - Totenstille - Q wie Quittung
Oberdeck, wo er mit dem Rücken zum Meer an der Reling lehnte. Rechts von ihm sah man in der Ferne eine palmenbestandene Insel. Er trug rote Shorts, keine Schuhe und ein weißes Anzughemd, das locker und offen über seinen Oberkörper fiel. Eine Kapitänsmütze saß ihm keck auf dem Kopf. Sein Grinsen war unaffektiert und zeigte blendend weiße Zähne in einem gebräunten Gesicht. Die Wirkung war verwegen - eine gelungene Kombination aus Charisma und Sex-Appeal. Henry lief im ganzen Gesicht rot an.
»Oooh, das ist ja toll. Da will ich auch einen haben«, sagte ich.
»Gehört dir. Du behalten. Ich habe noch mehr für die Frauen hier in Gegend.«
»Danke.« Ich blätterte die Seiten um und musterte die anderen Kandidaten. Obwohl manche der Fotos einigermaßen attraktive Männer zeigten dem Anschein nach alle über achtzig -, war kein einziger so umwerfend wie Henry. Ich lachte vor Vergnügen. »Ich hab ja gar nicht gewusst, dass du so fotogen bist. Kein Wunder, dass ständig das Telefon klingelt. Du siehst umwerfend aus.«
»Das Telefon klingelt nicht ständig«, erwiderte er.
In diesem Moment klingelte das Telefon tatsächlich.
»Ich gehe«, sagte Rosie und hievte sich in die Höhe.
»Von wegen. Dafür gibt’s Anrufbeantworter.«
Wir warteten die drei weiteren Klingelzeichen ab, bis sich Henrys Band einschaltete. Aus dem Nebenzimmer vernahmen wir seine Ansage, gefolgt von dem altbekannten Piepston. »Henry? Hier ist Bella, >ma petite belle‹. Erinnerst du dich? Ich hatte doch versprochen, dass ich dich anrufe, und das tu ich jetzt. Ich wollte dir nur sagen, wie enttäuscht ich war, dass wir nicht noch mal miteinander plaudern konnten, bevor du von Bord gegangen bist. Du böser Junge. Wenn du Zeit hast, erreichst du mich unter …«
Das Abendessen wurde durch zwei weitere Anrufe unterbrochen, die Henry ignorierte. Er hielt den Blick auf den Teller gesenkt und zerteilte sein Hühnchen mit einer Konzentration, die er seinem Essen sonst selten widmete. Als der Apparat zum dritten Mal klingelte, verließ er den Tisch und ging ins Wohnzimmer, um den Klingelton auszustellen und die Lautstärke am Anrufbeantworter zu verringern. Niemand von uns sagte ein Wort, aber Rosie und William wechselten einen Blick, und sie grinste viel sagend auf ihren Teller hinab. Ich sah ihre Schultern beben, auch wenn sie sich eine Serviette vor den Mund presste und so tat, als müsste sie husten. »Das ist nicht lustig«, fauchte Henry.
9
Da Stacey nun schon zum zweiten Mal innerhalb von fünf Tagen im Krankenhaus lag, erklärte ich mich bereit, das Gespräch mit Lorenzo Rickman am Montag zu übernehmen. Zwar hatte Dolan sich erboten einzuspringen, aber ich wusste, dass er unbedingt dabei sein wollte, wenn die Ärzte die neuesten Untersuchungsergebnisse mit Stacey besprachen. Mein Gespräch mit Rickman erwies sich als kurz und unproduktiv. Wir standen in der Wartungsbucht eines Reparaturbetriebs für Importautos, wo es nach Auspuffdämpfen, Motorenöl und neuen Reifen roch. Fußboden, Werkbänke und alle umliegenden Flächen waren übersät mit einem Wirrwarr aus Werkzeugen und Maschinen, Ersatzteilen, Handbüchern, schwarz angelaufenen Zündkerzen, zerborstene Zylinderköpfen, Ventilen, Ventilatorriemen, Antriebswellen, Lichtmaschinen und Abgaskrümmern.
Rickman war Ende dreißig und hatte ein eckiges Gesicht und einen Hals, der zu dünn schien, um seinen Kopf oben zu halten. Der Ansatz seiner dunklen Haare wich bereits zurück, und er hatte sich ein paar dünne Strähnen in die Stirn gekämmt, wo sie einen Saum aus schütteren Ponyfransen bildeten. Um sein Kinn verlief ein kurz geschorener Bart, über den er mit seinen von Öl befleckten Fingern immer wieder nachdenklich strich. Sein Aufzug unterschied sich vermutlich nicht auffallend von der Kluft, die er im Gefängnis getragen hatte, wenn man einmal von dem maschinengestickten Namen über seiner linken Hemdtasche absah. Er gab sich betont hilfsbereit, konnte sich aber nicht daran erinnern, mit Frankie Miracle inhaftiert gewesen zu sein. »Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen«, sagte er kopfschüttelnd. »Der Name sagt mir nichts. Ich war nur die eine Nacht im Gefängnis. Gleich am nächsten Morgen hat ein Freund die Kaution für mich gestellt, aber erst nachdem ich versprochen hatte, den AA beizutreten. Seitdem bin ich trocken – na ja, mehr oder weniger.« Er grinste flüchtig und strich sich die Haare in Richtung Stirn. »Ich komme zwar immer wieder mit dem Gesetz in
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