Kinsey Millhone 17 - Totenstille - Q wie Quittung
habe beim Vorbeifahren abgebremst, weil ich dachte, dass vielleicht jemand Ärger mit seinem Motor hat und losgezogen ist, um Hilfe zu holen. Aber ich habe keinen Zettel an der Windschutzscheibe gesehen, also bin ich weitergefahren. Als ich das nächste Mal vorbeigekommen bin, war der Wagen weg.«
»Haben Sie Melvin davon erzählt?«
»Ich hab’s Madge gesagt und sie ihm, aber danach habe ich nichts mehr weiter gehört. Ich wollte meine Beobachtungen niemandem aufdrängen, der sie nicht hören will. Er hätte das alles doch wieder nur lächerlich gemacht. Das Problem bei Melvin war, dass er nichts geglaubt hat, wenn es nicht von ihm selbst gekommen ist. Wissen Sie, was er für ein Typ war? Wenn er etwas nicht gewusst hat, hat er einfach was erfunden. Wenn er keine Lust gehabt hat, etwas zu tun, dann hat er trotzdem behauptet, er hätte es erledigt. Man hat den Kerl nicht in den Griff gekriegt. Wenn man ihm eine Frage gestellt hat, hat er sich aufgeführt, als hätte man ihm Fahrlässigkeit vorgeworfen.«
»Klingt ätzend.«
»Ja, das war er. Und Madge auch.«
»Tja. Vielen Dank für die Information. Ich sage es den beiden Männern, vielleicht möchten sie der Sache ja nachgehen.« Innerlich knabberte ich immer noch daran, dass er meine »Großmama« erwähnt hatte. So hatte ich Grand nie gesehen. Ich hatte also eine Großmutter. Wie befremdlich.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er: »Ich habe früher mal Ihre Mutter gekannt.«
»Wirklich.«
»Ja, Ma’am. Wissen Sie, Arne Johanson hat, seit er siebzehn war, für die Kinseys gearbeitet. Er hatte selber eine Schwäche für sie, aber Rita hat ihn nicht mal angeguckt. Er hat gedacht, es liegt daran, weil er zu alt für sie war, aber dann hat sie ganz überstürzt Ihren Dad geheiratet, und der war genauso alt wie Arne. Er war total vor den Kopf gestoßen, das kann ich Ihnen sagen. Ich habe ihm gesagt, er soll sich nicht lächerlich machen. Zuerst einmal würde sie sich nie mit einem Cowboy einlassen. Und zweitens würde sie lieber sterben, als dort hocken zu bleiben, wo sie war. Sie war richtig wild und unheimlich hübsch. Und enorm abenteuerlustig. Sie hätte sich mit jedem eingelassen, nur um von der Ranch wegzukommen.«
»Wie schmeichelhaft«, sagte ich. In Wirklichkeit war dies das erste konkrete Bild, das ich je von ihr gezeichnet bekommen hatte. Mit dieser spontanen Vignette hatte er ihre ganze Lebensgeschichte eingefangen. Meine Cousinen Liza und Tasha hatten in einer Form von ihr gesprochen, die überlebensgroß schien. Sie hatte die Aura eines Familienmythos angenommen, eines Symbols für diesen legendären Zusammenstoß zweier Willen. »Soweit ich weiß, sind sie und meine Großmutter nicht miteinander ausgekommen.«
»Oh, die haben sich ganz schön gestritten, die zwei. Aber Rita war Cornelias ganzer Stolz. Irgendwie hat sie mir Leid getan …«
»Wer, meine Mutter?«
»Ihre Großmama. Sie hat immer gern behauptet, sie hätte keinen Liebling unter den fünf Mädchen, aber Rita war ihre Erstgeborene, und Cornelia hat sie abgöttisch geliebt. Sie kennen die Geschichte ja wahrscheinlich.«
»Ja, sicher. Ich habe sie mal gehört«, log ich unverfroren. Irgendwie wirkt Klatsch weniger bösartig, wenn die Person, die einem die Geschichte erzählt, glaubt, man würde sie schon kennen.
»Cornelia hat Burton Kinsey mit siebzehn geheiratet; da war sie genau halb so alt wie er. Das war mit ein Grund, warum sie nicht wollte, dass Rita so jung heiratet. Sie hat drei Babys hintereinander verloren, allesamt Jungen, und keiner von ihnen kam lebend zur Welt. Rita war das erste ihrer Kinder, das überlebt hat. Cornelias Jungen waren alles Totgeburten. Nur die Mädchen sind durchgekommen.«
»Woran lag das?«
»Ich glaube, die Ärzte haben sich nie auf eine Ursache festgelegt. Damals hat die Medizin überwiegend auf Glück und Mutmaßungen beruht. Die Leute sind an Zucker gestorben, bevor diese zwei Knaben 1923 das Insulin entdeckt haben. Die Leute sind auch an Blutarmut gestorben, bis 1934 die Lebertherapie gekommen ist. Stellen Sie sich das mal vor: Leber essen war eine Heilmethode. Wir vergessen so etwas gerne; vergessen, wie unwissend wir waren und wie viel wir dazugelernt haben.« Er hielt inne, um sich zu räuspern. »Na gut. Ich wollte nicht tratschen. Das Blöde am Altwerden ist, dass einem die ganzen Leute flöten gehen, denen man seine Geschichten erzählen kann. Sagen Sie mir Bescheid, wenn sich das mit dem roten Auto als wichtig erweist.
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