Kiosk
Karla.
»Fragt sich nur, wie lange noch«, sagt sie und denkt an den jungen Krahwinkel. Eine Säge frißt sich nebenan kreischend in ein Brett.
»Er gehört Lenchen, auch wenn Sie sich das inzwischen anders überlegt haben.«
»Mit mir hat das gar nichts zu tun«, schreit Karla gegen den Lärm der Säge an. »Verschwinden Sie endlich. Sargen Sie sich ein mit Ihren gottverdammten Totenschädeln.«
Die Säge setzt aus. Rose Quittländer steht am Fenster, gibt vor, schwer zu hören, und packt das Rätselheft von gestern aus. Sie hat es lauwarm gebügelt und die Lösungen, die sie mit butterweichem Bleistift in die Kästchen gemalt hat, zart wie Spinnenbein, sauber ausradiert. So hat sie jahrelang gerätselt für dieselben zweimarkundachtzig und einmal sogar einen Toaster damit gewonnen.
»Hallo Sie, guten Morgen, Fräulein. Ich muß das umtauschen, kannte ich doch schon. Das macht ja keinen Sinn, wenn man die Lösungen schon kennt.« Die Tochter vom Jakob wird dafür schon Verständnis haben, anders als das Lenchen, sonst muß sie nachhelfen. Hat der Karla, als sie noch ein verheultes Blag war, schließlich oft genug die Rotznase geputzt, genau wie davor dem Jakob, wenn ihm zum Heulen zumute war wegen der Bomben.
8
D ie Glocken läuten wie jeden Sonntag ihre Vorwürfe ins Viertel hinein, als hätten die Pastoren nachts in den Bäumen vor St. Pantaleon gehockt und die Sünden gezählt. Dabei sitzen in den Ginsterbüschen nur paar trostlose Junkies und warten auf den Mann aus dem Bett von Nikitas Mutter. Der versorgt sie recht pünktlich mit vertretbarem Stoff. Nicht so gut wie der von Pjotr, aber der war die Ausnahme. Am andern Ende vom Kattenbug schaut von einer Kirchturmspitze versteinert und gesenkten Hauptes der heilige Mauritius auf die Trinker herab, die sich tief unter ihm auf den Treppenstufen sammeln.
Kalle war Samstagabend auch hier und hat sich ein blaues Auge gefangen. Selbst schuld, man gibt nicht an mit seinem Schnaps und dann nichts ab, hat keinen Anstand, hat der Dachdecker ihm schon ein dutzendmal gesagt. Den Deckel bei Lena hat er quitt gemacht. »Und wo das herkommt, ist noch viel mehr«, hat er gesagt und drei blaue und einen Fünfziger hingezählt. »Rest ist für eure Kaffeekasse. Wenn’s so weitergeht, bekommt der Jakob noch sein Jubiläumsfest. Mit Jazzkapelle.«
So macht man das. Dann hat er sich ein sauberes Hemd angezogen und ist »Beim Fährmann« gewesen, kann er sich zur Zeit leisten. Das ist doch was, fast so wie früher, als er nur in der Kneipe getrunken hat.
Die Baustellenzufahrt ist gelegt, die Räum- und Schachtarbeiten kommen schleppend voran. Noch immer hat kein Bagger sein Schaufelmaul in den Boden gegraben. Krähwinkel hat deswegen jeden Tag eine telefonische Schreierei mit dem Abbruchunternehmen, aber es hilft nichts. Der Bagger wird woanders gebraucht.
Das Erdreich ist hart und uneben, durchwurzelt und von widerspenstigen Metallstreben durchsetzt. Mit der Hand und der Hacke werden die Steine und Trümmer dem Boden entrissen und aufgelesen. Die Trenn- und Grundmauern des Hauses geben sich nicht freiwillig preis.
Krahwinkel zahlt dem Dachdecker und seinen Kumpanen für Nacht- und Sonntagsarbeit was drauf, es muß ja weitergehn. Die drei sind verrückt und durstig genug, um die Steine einzeln rauszuklauben. Wirklich ein Riesenschweineglück für die drei. Der Dachdecker hat jede Menge alte Blei- und Zinkrohre entdeckt, die er heute nacht abräumen will, bringt noch was beim Schrotthändler. Er kann sein Glück kaum fassen, und die Nacht ist ohnehin sein Element.
Karla und Kwiatkowski sprechen seit dem vergangenen Dienstag nicht mehr miteinander. Nikita holt jeden Mittag den Hund. Der Mann liegt immer noch bei ihrer Mutter im Bett und zahlt für ihre Einkäufe beim Kiosk, und was sie sonst noch so brauchen. Manchmal muß er nachts weg, dann weckt die Mutter sie und drückt sie heftig und verspricht neue Barbiepuppen. Dem Mann nimmt sie im Überschwang immer wieder Versprechen ab, die er nicht halten wird.
Beim Tarot will sie die Liebenden gezogen haben, aber Nikita weiß, daß sie schummelt. Die Liebenden haben hinten einen Kaffeefleck drauf.
Lenchen hat sich mit dem jungen Krahwinkel in ihrer Küche zusammengesetzt und Karla mit dem Antiquar in dessen Dachwohnung.
Sie hat Jakobs Briefe bekommen, die ihre Mutter vor mehr als dreißig Jahren ungeöffnet zurückgeschickt hat, und muß ihr verzeihen. Einer Toten, was unmöglich ist.
»Versteh mich doch«, fleht die
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