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Antwort auf Nikitas Frage.
»Warum willst du das mit den Toten denn wissen?«
»Nur so. Sie haben doch gesagt, daß sie nicht einfach so wegkommen. Wo sind sie dann?« Ihr Blick läßt nicht locker, selbst Filou bemüht sich vergeblich um ihre Aufmerksamkeit. Nikita will eine Antwort und guckt so ernst, als hinge ihr Leben davon ab.
Mit einem Himmel und Engeln kann ich der nicht kommen, das sieht Karla.
»Also, natürlich sind die Toten in ihrem Grab. Das ist dir klar, oder?« Nikita nickt. »Ja, klar, da war ich mal.«
»Weißt du, früher haben die Leute den Toten Essen mit in die Gräber gegeben, weil sie wußten, daß sie nicht einfach verschwinden. Die Ägypter haben kleine Boote für sie gemacht, weil sie glaubten, daß die Toten eine Reise antreten.« Nikita kraust die Stirn. Boote? Das klingt kompliziert, sie will doch nur mit Pjotr sprechen. »Wohin sind die denn mit den Booten?«
»Dahin, wohin wir ihnen nicht folgen können. Aber dafür sind sie in uns, wenn wir an sie denken. Ich meine, du redest doch sicher manchmal mit deinem Vater, oder?« Sie selber hat damit begonnen, seit sie die Briefe vom Jakob gelesen hat. Nachts liegt sie wach und formuliert stockend Antworten.
»Lieber Vater.« Nein falsch. »Vater«, auch falsch. »Warum hast du dich nie bei mir gemeldet?« Stimmt auch nicht, hat er ja. Zu spät. Und dann schnürt ihr das biblische »Vater, warum hast du mich verlassen?« die Kehle zu. Das ist so albern, daß sie sich sogar unter der Bettdecke dafür schämt.
Nikita kraust wieder die Stirn. Reden kann man das eigentlich nicht nennen, was sie mit Pjotr verbindet. Sie kann sich ja nicht an seine Stimme erinnern, hat sie doch nie gehört. Aber vielleicht macht sie ja was falsch, den Eckenflüsterer hört sie schließlich deutlich.
»Kann man überall mit den Toten in einem reden?«
Karla hat wieder einen Kunden.
»Sieben Reiss.«
»Tüte?«
»Nee, geht so, hab 'nen Rucksack dabei.«
Karla öffnet den Kühlschrank, trägt erst vier, dann drei Flaschen Bier zur Theke. Während der Kunde klackend die Flaschen verstaut, sagt sie zu Nikita: »Die meisten Menschen gehen dafür zum Grab auf den Friedhof. Da ist es still, man kann gut nachdenken und hinhören. Frag doch mal deine Mutter, ob sie mit dir hingeht.«
Nur das nicht. Wenn sie mit ihrer Mutter am Grab von Pjotr steht, gibt es nur Tränen, Geheul und Umarmungen, an denen sie fast erstickt. Da versteht sie ihr eigenes Beten nicht mehr, obwohl sie versucht, die Verse ganz laut zu denken. Da hilft nur Kopfrechnen, und schon hat sie die Verbindung zum Vater verloren.
Aber sie braucht eine Verbindung zu ihm. Dringend, bevor das andere Kind kommt, und der Mann dableibt. Sie schiebt sich von den Kisten runter. Karla stellt leere Flaschen in einen Kasten, zählt leise ab. »Das sind drei Mark dreißig Pfand«, hilft Nikita aus. Karla muß grinsen.
»Hast du viel auf?«
Nikita erschrickt ein bißchen bei der Frage. Karla nimmt das immer verteufelt genau mit den Hausaufgaben, ganz versessen ist die darauf, dabei ist das Killefitz.
»Nee, gar nix.« Nikita geht immer noch nicht, weil sie einen Entschluß fassen muß, der schwieriger ist als Bruchrechnen mit Kommazahlen. »Kann ich den Filou über Nacht behalten?«
Karla hebt mit einem Ruck den Kasten mit leeren Flaschen hoch. »Was sagt denn deine Mama dazu?«
»Ist okay, der Mann ist heute nacht nicht da.«
Braucht wohl einen Schutzgeist, denkt Karla. Kein Wunder bei den Gedanken, die Nikita sich so macht. Sehr einsame, unbezähmbare Gedanken. Nachts bekommt man sie gar nicht mehr aus dem Kopf, und man muß die Teddybären auf der Tapete zählen oder die Steckdose streicheln, obwohl man weiß, wie gefährlich und verboten das ist. Karla kennt das noch sehr gut aus ihrer eigenen Kindheit. Kindernächte können lang sein, manche dauern eine Ewigkeit, und überall kriecht Furcht aus den Ritzen, sogar aus Puppenschränken, und alles wird fremd. Dick und grau wie schleichende Nebel kommt Bruder Angst aus der Unterwelt, und man liegt nur da und rührt sich nicht, damit der Nebel keine feste Gestalt annimmt und Hände bekommt, die er ausstrecken kann.
»Dann nimm Filou mal mit. Haste Futter für ihn? Hier, nimm.«
Sie gibt dem Mädchen zwei Dosen.
»Danke.« Nikita packt sich den Tornister auf den Rücken und holt die neue Hundeleine. Filou kennt den Weg ja nicht, den sie gehen will, wäre schlimm, wenn er wegliefe. Sie kennt den Weg ja auch nicht. Nur ungefähr, erst mal muß sie zum
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