Kiosk
Kapelle auf seinem Anorak hingestreckt, über ihr beginnt das bunte Glas eines Fensters zu leuchten. Der Friedhof war nachts geschlossen, deshalb hat sie in der Kirche geschlafen. Ganz still. Sie reckt sich und streichelt den Hund. Schaut sich um.
Vorne auf einem Steinpodest ist schon seit gestern alles für die erste Aussegnungsfeier gerichtet. Zwei Gestelle mit dunkelgrünen Kränzen, weißen Nelken und gefransten, glanzfarbenen Bändern – in stillem Gedenken. Sie flankieren ein steinernes Pult. Schräg daneben steht ein eiserner Ständer mit abgeschrägter Platte, da gehört die Bibel drauf. Gelbweiße Kerzen stecken in Wandhaltern, die Dochte sind jungfräulich weiß. Über allem schwebt lebensgroß der Gemarterte mit verträumtem Gesicht und atmet silberne Stille aus.
Nikita hält Filou das Maul zu, als sich seitlich zum Altarraum eine Tür öffnet. Vier Männer tragen den ersten Sarg hinein, laden ihn mit sachlichen Griffen, nur kurz polternd, auf dem Steinpult ab. Sie schieben ihn scharrend gerade und polieren die Griffe. Einer nestelt die Kranzbänder zurecht. »Wann ist nach dem der nächste dran?« fragt einer hallend.
»Viertel nach neun, genug Zeit fürn Kaffee«, antwortet ein anderer gedämpft.
»Kriegt der hier Krematorium?«
»Nee, Erdbestattung mit Grabrede, das dauert.« Sie verlassen die Kapelle, die Tür fährt krachend ins Schloß.
Nikita füttert Filou aus der zweiten Dose, der schlingt mit Vergnügen. Das Mädchen hat keine Angst vor dem Toten da vorn. Mit dem will sie ja nicht sprechen. Sie steckt die leere Dose in ihren Rucksack und frühstückt zwei Fruchtzwerge, die im Licht des Buntglasfensters rot leuchten. Als sie fertig ist, überlegt sie kurz hinter der Haarsträhne. Dann steht sie auf, geht nach vorn zum Sarg. Sie schlägt ein Kreuz, langt in den Rucksack und zieht etwas hervor.
»Falls Sie unterwegs Hunger haben«, sagt sie flüsternd zum Sarg und legt vorsichtig ein Kinderpingui auf den Deckel. Kinderpingui mag sie am liebsten, einen hat sie noch für Pjotr dabei. Sie verläßt sich auf das, was Karla von den Ägyptern erzählt hat. Karla weiß Bescheid.
Sie macht einen Knicks und geht den Gang zwischen den Holzbänken entlang zur Doppeltür, stemmt sich dagegen. Filou folgt springend. Die beiden treten auf den stillen Vorplatz. Vögel grüßen zwitschernd, sonst ist es laubstill. Nikita geht nach rechts zu dem schwarzen Schmiedegitter. Das Tor zum Friedhof steht offen. Nikita taucht ein in das Dunkel von Platanen. Eine kleine Allee schreitet sie feierlich ab, dann empfangen sie die ersten Grabreihen. Sie sieht einen Engel, geht auf ihn zu und berührt seinen steinernen Flügel.
»Hunde sind hier verboten«, giftet eine brüchige Stimme, eine grüne Gießkanne klappert gegen einen Gehstock, ein knochiger Finger wird zänkisch erhoben.
Nikita schaut sich kurz nach der zeternden Witwe um, dann läuft sie einfach los. Nach rechts, wieder links, weiter geradeaus, an einer Buchsbaumhecke vorbei. So viele Gräber, wo kommen auf einmal die vielen Toten her? Der Friedhof ist größer, als sie ihn in Erinnerung hat. Sie erreicht ein mit rotem Split bedecktes Rondell, schöpft kurz Atem und macht Filou, der mit fliegenden Ohren und Efeu im Fell hinterhergetobt ist, an der Leine fest. Sie hockt sich auf den Rand des Brunnens, der in der Mitte des Rondells leise murmelt. Nikita überlegt. Sie hat sich verlaufen, das steht fest. Ihr Blick fällt auf ein sauber gepflegtes, steingefaßtes Grab, die Fläche ist mit strahlend weißen Kieseln bedeckt, eine tonfarbene Schale mit verblühtem Erika und eine ewige Lampe aus Messing sind der einzige Schmuck.
Nikita geht hinüber und steckt ein paar von den Steinen in die Tasche. Dann wählt sie den Weg, der rechts vom Rondell wegführt, hinein in eine Gasse aus traurigen Zypressen. Sie zählt die Gräber ab und legt, begleitet von Glockenläuten, auf jedes fünfzehnte einen Stein, schlägt entschuldigend ein Kreuz. Wenn sie abbiegt, legt sie zwei Steine hin.
»Dann finden wir später zurück«, erklärt sie Filou, der nach den Steinen rennt, um damit zu spielen.
Nikita geht langsam und liest die Grabinschriften. Oft sind es nur Namen und Daten, manchmal steht etwas von ewiger Liebe und unvergessen darauf, ganz selten ein frommes Gedicht in Goldbuchstaben. Das spricht sie flüsternd nach und faltet dabei die Hände. Die Verstorbenen flüstern in den Bäumen. Einmal hört sie ganz nah unterdrücktes Murmeln und knirschende Schritte im Kies
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