Kiosk
eines Weges. Sie schaut durch die Büsche und sieht einen kleinen, dunklen Zug von Menschen, die hinter einem Sarg hergehen, der auf einem surrenden Elektrokarren vor ihnen herfährt. Es ist ein anderer Sarg als der in der Kapelle. Der erste Tote ist längst unterwegs.
Die Sonne zeigt schon hohen Vormittag. Ein schwammgesichtiger Pfarrer geht voran, trägt würdiges Schwarz und ernste Miene. Die Gedenkrede ist ihm nur mäßig gelungen, was soll man über Tote sagen, die man nicht gekannt hat? Überhaupt mag er keine Beerdigungen. Hochzeiten auch nicht, da stehen so viele sorgfältig geschminkte Lügen vor dem Altar. Taufen sind ihm am liebsten und manchmal auch Beichten.
Nikita denkt angestrengt nach. Der Grabstein ihres Vaters ist aus rosa Marmor mit grünen Wellen darin. Die Mutter hat sich das was kosten lassen, schließlich war von Pjotr noch einiges Geld da, unten in der Sockenschublade. Das hätte sogar für eine kleine Küche gereicht, aber in der Liebe ist Nikitas Mutter seit jeher verschwenderisch. Fünftausend hat der große Marmorstein gekostet. Der Steinmetz konnte ihr ausreden, ein Herz in die polierte Fläche zu schneiden, dafür hat er ihr einen sehr schönen Spruch aus der Bibel herausgesucht:
»Die Liebe glaubet alles, hoffet alles, duldet alles.«
Von der rosa Farbe ließ die Mutter sich nicht abbringen. Sie bringt auch nur Blumen in dieser Farbe vorbei. Das letzte Mal war es kurz vor Weihnachten, und die Blumen waren aus Stoff, weil es im Winter nur wenige rosa Blumen gibt, außer Christsternen, aber die erfrieren nachts.
»Da hätte dein Vater keine Freude dran«, hat sie zu Nikita gesagt. »Er mochte keine toten Blumen. Er hat das Leben so geliebt.«
Wieder läutet die Glocke, diesmal lauter als vorhin. Zwölfmal. Nikita muß wieder nahe bei der Kapelle sein. Sie schöpft Mut, die Kapelle ist nicht weit weg von Pjotrs Grab, und außerdem, fällt ihr ein, muß sie nach der Birke suchen, die hat die Mutter ein Jahr nach dem Tod des Vaters gepflanzt.
Birken waren seine Lieblingsbäume. In Rußland, da wo Pjotr herkommt, gibt es viele Birken, hat die Mutter gesagt. Ganze Wälder davon, die auf gelbem Sand wachsen. Rußland ist ein Land voller Wunder. Wenn sie groß ist, will sie mal hin. Birken sind leicht zu merken, wegen der weißen Stämme mit den braunen Flecken, der Wind fängt sich silbern in ihren Blättern und macht dabei ein flirrendes Geräusch. Nikita muß Haken schlagen, um den Witwen mit den Gießkannen aus dem Weg zu gehen.
Es ist Filou, der die Birke endlich findet und dranpinkelt. Nikita ist zum erstenmal allein mit ihrem Papa. Sie streichelt den Stein, pflückt eine Tulpe von nebenan, legt sie in das bodenbedeckende, federnde Grün. Sie weiß nicht recht, wie anfangen.
Am besten mit einem Gebet, aber einem richtigen, das der Vater hören kann. Sie kennt kaum welche. Vom Religionsunterricht ist sie abgemeldet, wegen der Steuer, die die Mutter zahlen mußte, als sie mal einen festen Job in der Gardinenabteilung bei Karstadt hatte.
Zwei Gebete hat Nikita im Kindergarten gelernt. Sie holt tief Luft und betet laut, was sie nur sehr selten tut.
»Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesu allein.«
Und: »Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm.«
»Amen«, sagt hinter ihr der schwarze Mann und seufzt interessiert beim Anblick des Mädchens. Filou fängt böse an zu bellen.
15
E s ist nicht Karla, die der Fotograf angesprochen hat. Es ist Nikitas Mutter. Sie sieht verstört aus. »Sind Sie wegen meinem Kind hier?« fragt sie den Fotografen und beginnt gleich zu weinen. Wie das mit Polizeifotografen so ist, sieht auch dieser fast wie ein Kriminaler aus, Typ Vorabendserie, die Männer vom K3.
»O Gott, mein Kind, was ist mit meinem Kind?« Die Versammlung vorm Büdchen guckt nur. Lena legt das Messer, mit dem sie gerade die Brötchen für Buddy schmiert, zur Seite, kommt aus dem Kiosk.
»Was ist denn los?«
»Nikita ist nicht da. Sie war heute nacht nicht zu Hause. Ist sie bei Ihnen?« Lena schüttelt den Kopf.
»Haste genug Bilder?« fragt der Journalist den Fotografen. Er muß jetzt wirklich weiter, und hinten hat er eine Politesse entdeckt, noch zwanzig Meter, dann ist sie bei seinem Wagen. Der Fotograf hört nicht hin, sondern guckt vorsorglich betroffen. Macht er immer so, wenn’s um Krimis geht, und verschwundenes Kind klingt schon mal nicht schlecht. Der letzte Fall ist gerade erst zwei Wochen her, vielleicht wird eine
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