Kirchwies
Feldbachs wieder hinunter. Sie watete in Schuhen, er schwamm wie ein Biber, Augen und Schnauze über Wasser. Er konnte viel schneller schwimmen und die kleinen Stromschnellen überwinden, als sie durch überschwemmte Bachkiesel waten. Es schien, als würde er nie müde werden.
Am Samstag vor dem schrecklichen Ereignis hatten sich Heidi und der Braune im Kirchbach Gesellschaft geleistet. Sie waren am frühen Abend über die schönsten Kiesel gestolpert und hatten mit einem alten Treibholzstock Holen gespielt. Bald war es kühler geworden, Heidi zog sich etwas über. Sie saßen nebeneinander, wurden von der untergehenden Sonne geblendet und beobachteten den nervösen Tanz der Forellen.
Nur ein Moment der Unachtsamkeit, da war der Braune weg gewesen. Er kam die ganze Nacht nicht wieder. Nach längerer Zeit verbrachte Heidi erstmals wieder die Nacht allein in der Tankstelle. Sie vergaß, die Leuchtschrift draußen auszuschalten. »Blumen-Heidi« prangte die Nacht über grell gelb am Pavillon. Seitdem hatte Heidi den Braunen nur auf Theas Einweihungsparty kurz zu sehen bekommen. Sie vermisste ihren Spezl.
Nun war Montag. Der Blumen- und der Gemüselieferant waren in aller Herrgottsfrüh mit ihren Lkws vorgefahren. Die Heidi ordnete die Schnittblumen in große Vasen ein; auf ihre Rosen war sie besonders stolz.
Die Sonne nahm Gestalt an und wuchs droben über dem Tal in einer Bergsenke zu einem orangefarbenen Kürbis heran.
Klopf, klopf, klopf.
Der Braune. Das Original.
Er sah sie aus den treuherzigsten, ehrlichsten Augen an, die Kirchwies je gesehen hatte. Wie immer, wenn er vor ihr saß. Keine Spur von schlechtem Gewissen. Selbstbewusst wie immer.
Nur etwas war anders.
Er hatte blutrote Lefzen. Er lächelte sie an, und die Region um sein Maul war voller Blut.
Voll frischem Blut, wie’s schien.
Der Braune, so wie sie ihn kannte, war kein Typ, der Schafe reißt. Doch Heidi wusste um seine Vergangenheit. Was hatte er da bloß aufgegabelt?
Sie wollte es wissen.
Noch drei Stunden, bis ihr Laden öffnete. »Bin gleich zurück.« Vorsichtshalber hängte sie das Schild an die Tür.
»Komm, zeig’s mir«, zischte sie aufmunternd. »Brauner, such.«
Sie schwang sich aufs Fahrrad. Lange Zeit tanzte eine Libelle surrend neben ihnen her. Hoch über ihnen zeichneten Schwalben wirre Muster in den Himmel, Zeichen für gutes Wetter. Der neue Tag begann.
Die Leiche hatte einen Zementsack über dem Kopf. Sie sah weiblich aus. Wer es war, konnte Heidi nur kombinieren. Libellenweg 18.
Um Gottes willen. Thea?
sechs
Max Camparis Urgroßvater Duilio war vor hundert Jahren mit einigen Arbeitskollegen nach Bayern gekommen. Sie hatten in den Marmorsteinbrüchen rund um Carrara in der Toskana gearbeitet, nun aber besser bezahlte Arbeit gesucht.
Wie die Zugvögel kamen sie im Frühjahr und reisten wieder in die Heimat zurück, bevor der kalte Winter anbrach. Zunächst wurde jede erdenkliche Drecksarbeit angenommen, die deutsche Arbeiter nicht verrichten wollten.
Duilios Sohn jedoch spezialisierte sich auf das, was er konnte: die Arbeit in Steinbrüchen. Bald besaß er einen eigenen kleinen Steinbruch an der Grenze zu Tirol, erwarb Maschinen und beschäftigte eine eigene Mannschaft. Er, längst Deutscher, reifte zum wohlhabenden Mann mit mehreren Steinbrüchen heran. Der Besitz warf gutes Geld ab, mit dem er seinen vier Söhnen ein Studium ermöglichen konnte.
Tonio, Max Camparis Vater, studierte Jura und Politische Wissenschaften und wechselte zügig in die Politik, wo er es bis zum Minister im Freistaat Bayern brachte. Max wuchs in einem herrschaftlichen Haus auf. Auch er hatte alle Chancen zu Größerem. Doch Tonios Sohn wurde schon als Kind von einer Leidenschaft getrieben, die er lange geheim halten konnte.
In dem Ort, in dem die Familie lebte, gab es auf dem Friedhof ein Leichenschauhaus, in dem die Toten öffentlich aufgebahrt wurden. Dieses Leichenschauhaus fand der Bub so spannend, dass er – der Sohn des Ministers – sich immer wieder in der Nähe der Toten herumtrieb. Hier traf er die Totenfrau Käthe. Sorgfältig, fast liebevoll richtete sie die Toten her. Nachher sahen sie aus wie im Leben, nicht selten sogar edler. Als Max acht Jahre alt war, machte ihm die Frau im Leichenschauhaus einen Vorschlag. »Wenn du eh dauernd hier bist, kannst du mir auch helfen.«
Das fand der Bub klasse. Er durfte Zeitungspapier zerknüllen und zwischen die Beine der Toten stecken, damit das Tuch, mit dem der Leichnam bedeckt war,
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