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Kirchwies

Kirchwies

Titel: Kirchwies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannsdieter Loy
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Leiche am Boden, Campari davor. »Oh Gott! Thea.« Camparis kraftlose Stimme klang in ihr nach. Als ob die Tote seine Frau oder seine Schwester wäre, nicht irgendeine Bewohnerin des Dorfs. Das erstaunte sie.
    »Oh Gott, Thea!« Immer und immer wieder. Warum war sein Schreck so groß, die Trauer so stark? Nachdenklich holte sie sich noch einmal die Bilder vor Augen.
    Hier am anderen Ende des Dorfs war alles ruhig. Heidi atmete ein wenig auf. In dem kleinen Garten, den sie gestaltet hatte – die Schwester von Pater Timo hatte ihn kniehoch ummauert –, hatte sie eine Rosenrabatte angelegt. Die Rosen blühten und dufteten, als hätten sie ein Leben lang nichts anderes zu tun gehabt. Ein Wildentenpaar flog geräuschvoll vom Himmel herab, landete quakend und kunstvoll drüben im Teich jenseits der Straße. Bei der Landung wirbelte es das Wasser zu weißem Schaum auf. Mei, kam es Heidi in den Sinn, solche niedlichen Entchen hab ich früher in der Pfanne gebraten und mit Rotwein verfeinert.
    Sie ging hinein, verschloss die Tür sorgfältig, zog die Plissee-Stores herunter und legte sich wieder aufs Bett. Sie schlief kurz ein, aber sofort ließ kalte Angst sie wieder hochfahren. Eine ganze Weile stand sie am Fenster und sah hinaus. Dann saß sie am Tisch, trommelte mit den Fingern und stierte blind gegen die verhüllte Fensterwand. Sie huschte ins Badezimmer und weinte ein wenig. Sie ging wieder zum Fenster und sah zu, wie es zu dämmern begann.
    Thea war nicht einfach nur gestorben. Durch einen Verkehrsunfall oder am Berg oder so. Sie war ermordet worden! Licht fiel durch die Ritzen des Plissees. In einem Sonnenstrahl tanzten winzige Staubkörnchen.
    Wo war eigentlich der Braune? Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er ihr seine Entdeckung mitgeteilt hatte. Doch größere Sorgen über ihn machte sie sich nicht. Bei seiner Bande war er sicher gut aufgehoben, und wegen Leichenschändung konnte man ihn schlecht belangen.
    Widerstrebend hatte sich Fritzi zum Libellenweg 18 begeben. Ihr schwante Schreckliches. Und das bewahrheitete sich auch.
    Fritzi Gernot besaß gute Nerven. Sie war ausdauernd, zäh und beharrlich. Sie besaß die Fähigkeit, Schmerz und alles, was damit zusammenhing, zu unterdrücken oder gar nicht erst hochkommen zu lassen und wahrzunehmen. Doch angesichts der Toten war sie von einem tiefen Gefühl der Sinnlosigkeit befallen worden.
    Ihre beste Freundin im Dorf lag leblos und verstümmelt zu ihren Füßen und rührte sich nicht. Nie mehr. Der Schreck traf sie wie eine Serie von Peitschenschlägen.
    Sie hatte sich gefragt, warum Campari sie gerufen hatte. Er brauche sie als Ärztin, hatte er behauptet. Doch die Rechtsmedizinerin aus München mit einer Assistentin war zusammen mit den Herren von der Spurensicherung eingetroffen. Eine traurige Premiere! Zum ersten Mal in Kirchwies, dem Herzlichsten Dorf, Männer in weißen Overalls bei der Arbeit. Es hieß, dass Fritzis Freundin bereits diese Nacht in einem Kühlfach in der Rechtsmedizin in München verbringen würde.
    Sie selbst hatte nur mehr den Tod feststellen können. Campari verfolgte offenbar die Absicht, den Mordfall selbst zu bearbeiten. Er hatte so etwas erwähnt. Das ganze Gespräch hindurch vermieden sie es, den Begriff Mord in den Mund zu nehmen, doch er lauerte hinter allem, was sie sagten.
    »Und du stehst mir dabei zur Seite«, hatte er gesagt und sie dabei so durchdringend angeschaut, dass sie unmöglich ablehnen konnte. Danach war sie wie in Trance wieder zum Blumenhof zurückgeradelt. Sie fror.
    Nun stand sie im Garten und hielt eine Hand schützend vor die Augen. Wie um sich ein wenig von dem tiefen Schock zu erholen, studierte sie liebevoll die Linien der Berge ringsum. Sonnwendjoch, Lechnerkopf, Riesenkopf, der Wildbarren, alle überragt vom mächtigen Wendelsteinmassiv. Hinter einem Gesteinsbrocken versteckt lag Flintsbach und noch weiter rechts der Madron mit dem Steinbruch, in dem sie oft schon Eidechsen beim Sonnenbad beobachtet hatte. Sie mochte Eidechsen. Sie waren Verwandte der Dinosaurier, konnten senkrechte Wände hinaufklettern und sich durch engste Ritzen schmiegen. Droben am Wendelstein, oberhalb der Mitteralm, sah sie den Bahnhang, an dem sie sich im vergangenen Winter beim Skifahren einen viel beachteten Sturz eingehandelt und das Schlüsselbein gebrochen hatte. In ihrer aktiven Zeit als Boxerin hatte sie nie auf Skiern gestanden. Zu gefährlich.
    Sie musste niesen. Sie stand im Luftzug. Sie wandte sich zum Gehen und

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