Kirchwies
sie aus einem hohlen Baumstamm. Ihr Strickzeug hatte sie auf den Schoß sinken lassen.
Campari erklärte ihr seine Rolle.
»Aha, unser Bürgermeister ist also auch Kriminalkommissar. Interessant.« Sie lächelte verschmitzt. »Nehmen Sie doch Platz, Herr Kommissar. Vielleicht hab ich ja ein paar Neuigkeiten für Sie.«
Das hoffte Campari auch. Sollte er auf eine Quelle gestoßen sein?
»Schießen Sie los«, sagte er. Er hatte sich an den Tisch in der Mitte des Zimmers gesetzt, einen Arm auf die Platte gelegt und sich ihr zugewendet. Sie hatte ihren Rollstuhl ein paar Schritte näher an ihn herangefahren.
»Erst einmal wollte ich betonen«, sagte sie, »dass ich auch zu Theas Gartenfest eingeladen war. Ich hab aber abgesagt, weil – was soll ich da? Kann mich ja nicht rühren.« Mit einer erstaunlich gelenkigen Bewegung warf sie das Strickzeug samt Nadeln auf den Tisch, genau neben Camparis Arm.
»Ich hab die blöde Angewohnheit, beim kleinsten Geräusch aufzuwachen. Wenn um Mitternacht eine Maus quiekt, fahre ich hoch. Wenn um halb zwei drei Regentropfen aufs Dach fallen, krieg ich das voll mit. Und wenn um kurz nach drei in der Früh ein Auto bei der Thea vorfährt und um fünf vor halb vier wieder weg – dann hör ich das natürlich.«
Ein Auto! Mitten in seinem Dorf!
»Ein Auto?«, fragte er ungläubig. »Sind Sie ganz sicher?« Ein Ochs auf einem Fußballplatz wäre ein vergleichbarer Verstoß. »Meinen Sie wirklich … in der Früh um halb vier – am Montag? In der Nacht, in der Thea Brommel ermordet wurde?«
»Ja freili«, sagte Frau Stadtmüller. »Es war ein ganz leises Auto. Man hat den Motor kaum gehört. Wie a elektrische Nähmaschin. Wenn ich schnell genug aus dem Bett gekommen wär, hätt ich ja nachgschaut, weil …« Sie machte eine hilflose Geste und deutete an sich herunter. »Aber so.«
Einen kurzen Augenblick lang entstand in Camparis Kopf eine völlige Leere. Er konnte nicht denken. Dann hörte er innerlich das Motorengeräusch. Die größte Störung in der Nacht verursachte ein Moped. Wenn es also ein extrem leiser Motor gewesen war, den die Stadtmüller da gehört hatte – konnte es nur ein PS -starkes Fahrzeug gewesen sein.
Wie ein Blitz schoss ihm ein Name durch den Kopf. Wenn er das Fahrzeug fände – hatte er damit schon den Mörder?
Am Gartentürl von der Nummer 20 erwartete ihn Fritzi Gernot mit dem grünen Umschlag in der Hand.
»Ich hab mir gedacht, wenn du eh schon im Nebenhaus bist …«, sagte sie. »Hat’s was gebracht?«
Er nickte flüchtig. »Gib her.«
Zwar hatte ihm schon vorher vor dem Anblick gegraut, der ihn erwartete. Doch diese Fotos überstiegen seine bisherige Vorstellungskraft in Bezug auf Thea Brommel bei Weitem. Bilder, die sie hüllenlos von außen, teilweise auch von innen zeigten.
»Ist dir schlecht?«, fragte Fritzi. »Du bist ganz blass geworden.«
Ja. Er konnte sich gerade noch beherrschen. Musste stark sein, um nicht einfach in sich zusammenzusacken. Er atmete schwer und fühlte, wie pure Eifersucht ihn überkam. Seine innere Erregung wuchs immer mehr, während er versuchte, Fritzi gegenüber unbeteiligt zu tun.
Ein schwarz-weiß gesprenkelter Hase sprang in Frau Stadtmüllers Garten herum. Er fetzte durch die Blumen im Vorgarten und quietschte kurz auf, als er die Hausmauer streifte. In Camparis Kopf vollführten Bilder einen unkontrollierten Tanz.
Thea! Oh Gott, Thea! Tote Menschen glichen sich ebenso wenig wie lebende. Jeder Tote und jede Tote war einzigartig. Nichts war gleich. Doch die tote Thea, die er gesehen hatte, bevor sie in die Kühlkammer befördert wurde, glich in keiner Weise der Thea, die er erlebt hatte.
An jenem Abend nach seinem Höflichkeitsbesuch in ihrem neuen Eigenheim steht Thea vor seinem Haus in der Dorfstraße. Er sitzt am Tisch auf der hinteren Terrasse und liest Sten Nadolnys »Selim oder die Gabe der Rede«. Als er das Klingeln an der Haustür hört, legt er das Buch weg und geht nach vorn.
Er fragt sich: Will sie was von dir? Warum wäre sie sonst gekommen? Er will mit ihr ernsthaft über den Vorabend reden. Aber stattdessen zieht er sie an der Hand wie eine lang Vertraute hinters Haus, umarmt und küsst sie.
Sie lässt es wie selbstverständlich zu.
»Magst einen Rotwein?«, fragt er.
Wie kleine Kinder lachen sie und freuen sich.
Margot ist außer Haus. Sie schwört einige Damen aus dem Dorf aufs Gemüsepflanzen ein. Bis mindestens zehn oder elf Uhr wird sie gebunden sein. Sie darf natürlich nichts
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