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Kirchwies

Kirchwies

Titel: Kirchwies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannsdieter Loy
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war außerhalb des Blickfelds.
    Plötzliche Stille.
    Dann das Aufheulen des Motors, das Geräusch durchdrehender Reifen.
    Mit aufgeblendeten Scheinwerfern kam das Fahrzeug zurückgerast. Es hatte in Höhe von Heidis Blumenkreisel gewendet. Unwillkürlich ließ Fritzi Odilo von der Schulter gleiten und drückte ihn fest an sich.
    An ihrer anderen Seite presste Breitenberg seinen Arm gegen den ihren. Sein Blick ruhte auf ihrem ebenmäßigen Gesicht mit der gebrochenen Nase. Ein plötzlicher Windstoß hatte ihr Haar über der Stirn aufgestellt. Er hakte sich bei ihr unter und zog sie und ihren Sohn hügelaufwärts weg von der Straße. Weg von der Gefahr. Wusste der Teufel, was der Typ da unten vorhatte.
    Unter Fritzis Top lief trotz der Abendkühle der Schweiß an ihrem Körper herunter.
    Ein Hase sprang aus dem Gebüsch und hoppelte auf die Straße zu.
    »Mama, ein Häslein!«
    »Jaja, lass nur. Der kommt schon zurecht. Der kennt sich hier aus.« Sie hatte keinen blassen Schimmer, ob der Hase nicht in einer Minute ein toter Hase war.
    Die Szene mit dem spinnerten Auto auf der Straße vor ihr konnte Fritzi zwar nicht ausblenden. Sie versuchte auch alles, die Gedanken an damals zu vertreiben. Doch plötzlich war die bildhafte Vorstellung da, sie blieb einfach haften, und Fritzi kannte weder den Grund, noch gab es einen Anlass dafür. Oder doch? Breitenberg presste seinen warmen Körper intensiv gegen ihre rechte Seite. Sie musste an ihre Eltern denken.
    Was gäbe sie dafür, Mamas und Papas verschwitzte Gesichter vergessen zu können, mit denen sie ihr Töchterlein anstarrten. Im Alter von fünf Jahren war sie eines Abends, ohne zu klopfen, ins elterliche Schlafzimmer geplatzt. Die Luftfeuchtigkeit dort entsprach etwa der in ihrem Terrarium. Die Eltern waren so außer Puste, als hätten sie gerade minutenlang den Atem angehalten oder wie wild rumgetobt, weil sie nicht schlafen konnten.
    Und sie waren beide nackt!
    Noch irgendwas war anders. Und komisch. Denn sie verhielten sich so, als hätte Klein-Fritzi sie bei etwas Schlimmem erwischt. Dabei war das ganze Zimmer bis auf das Bett aufgeräumt und sauber. Papa seufzte leicht genervt und drehte sich weg zur Seite. Mama warf sich ihren gelben Bademantel über und brachte Fritzi ins Bett.
    »Weißt du«, erklärte sie in seltsamer Vertraulichkeit. »Mama und Papa haben sich manchmal ganz, ganz doll lieb.«
    Was sollte ihr das damals schon sagen? Außerdem wollte sie solch ein Statement gar nicht hören. Es war ihr wurscht.
    Klar, sagte sie sich, während Odilo auf der anderen Seite an ihr zog, es waren die Siebziger gewesen. Kinder und Heranwachsende hatten weder Smartphones noch Internet noch Pornos. Doch auch heute noch war es Kindern peinlich, vom Sex ihrer Eltern auch nur eine klitzekleine Ahnung zu bekommen. Obdachlosenkindern ist das ebenso fremd wie Notars- oder Musikerkindern. Nur die heimlichen Kinder katholischer Geistlicher waren hier ausnahmsweise fein raus.
    Und doch – ohne Sex würden wir alle gar nicht existieren, das hatte Fritzi schon als Kind begriffen. Trotzdem schlossen selbst die härtesten Machos die Augen und dachten lieber an Gänseblümchen oder Karussellfahren als an den Sex ihrer Eltern.
    Ein verstörter Blick zuerst auf Odilo, dann auf den Mann neben ihr. Fritzi war aus der Erinnerung aufgetaucht und plötzlich wieder hellwach für ihre Umgebung.
    Der gespenstische Buick war vor ihnen vorbeigerast – an der Pfarrei, an der Kirche, am Dorfkramer auf der anderen Straßenseite – und hinter der nächsten Kurve verschwunden. Als Nächstes war ein gigantischer Knall zu hören. Unmittelbar darauf das malmende Geräusch von zerschmetterndem Metall, das Klirren von zerbrochenem Glas.
    »Scheiße!«, knirschte Breitenberg. »Der hat die Kurve nicht gekriegt.«
    Odilo hielt sich beide Hände vor die Augen. Damit wurde alles um ihn herum unsichtbar und er selbst gleich mit.
    Der Journalist meinte erkannt zu haben, dass es nicht Anton Scheiberl war, obwohl sein schwerer Wagen da unten das Dorf aufräumte. Doch wenn Scheiberl es nicht war, wer sonst?
    Dann fingen sie an zu rennen, Hand in Hand, Breitenberg löste sich, weil Odilo nicht mehr mitkam, und stürmte voran.
    Die Eile war sinnlos wie in einem Traum. Stolpernd erreichte Fritzi mit dem Buben an der Hand die Dorfstraße. Sie sah andere Menschen hasten, stolperte wieder, platschte durch alte Pfützen. In der Entfernung heulte eine Sirene.
    Dann waren sie von flackernden Lichtern und großen roten

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