Kirschenküsse
Gärtner total verblasste,
und musste sich deshalb auf diese Art Aufmerksamkeit verschaffen! Auch die anderen Jungs schienen die Konkurrenz, die der Junge darstellte, unterbewusst zu spüren und stimmten mit ein.
»He, du, schicker Overall!«
»Hast du nicht auch ’ne Schürze, Gärtnerboy?«
»He, Blumenstreichler, wie ist das denn mit den Bienen und den Blumen?«
Der letztere Spruch kam von einem der Sechzehnjährigen. Na klar! Brauchte er vielleicht noch einen Ratschlag in der Richtung, weil er absolut keine Peilung hatte?
»Herrschaften!«
Herrn Heidenreichs ziemlich energischer Ruf setzte dem Treiben glücklicherweise ein Ende, wofür ich ihm sehr dankbar war. Als Opfer von Normans Spötteleien konnte ich mir ziemlich genau vorstellen, was in dem Gärtner vor sich ging. Er tat mir leid, genauso wie den meisten anderen Mädchen. Auch Carla starrte ihn noch immer ganz verzückt an und vergaß darüber sogar ihre Fingernägel.
»Lasst uns jetzt weitergehen!«
Von dem, was unser Reiseleiter während der Verbalattacken gegen den Jungen im Overall geredet hatte, war natürlich bei niemandem etwas hängen geblieben. Und wenn ich ehrlich war, hörte ich auch jetzt nicht hin, denn mir wollte einfach das Bild des gut aussehenden Unbekannten nicht aus dem Sinn. Wenn ich nur wüsste, an welchen Schauspieler er mich erinnerte!
Schließlich erreichten wir eine Art Bogengang, der ausnahmslos aus den gebogenen Ästen von Weiden bestand. Hier und da rankte ein wenig Efeu an einem der knorrigen Stämme hinauf. Als wir ein paar Schritte weit hineingegangen waren, stellte sich doch ein bisschen Gruselstimmung ein.
»In diesem Gang pflegten die hohen Herrschaften zu flanieren«, erklärte Herr Heidenreich. »Und ab und an kam es auch zu einem Stelldichein zwischen dem Schlossherrn und seinen Mätressen.«
Auf diese Worte hin kicherten ein paar Jungs wie kleine Mädchen, die zum ersten Mal bemerkt hatten, was nun der Unterschied zwischen ihnen und dem anderen Geschlecht war.
»Stell dir vor, du könntest hier auch in einem prächtigen Kleid deinen Kavalier empfangen«, raunte mir Anett zu, die sich noch immer an ihren Flyer klammerte, als sei er ein Rettungsanker. »Er würde dir ein paar galante Komplimente machen und dann würdet ihr euch küssen.«
Küssen?
Also bisher hatten Mona und ich das immer eklig gefunden, besonders wenn wir darauf zu sprechen kamen, dass da irgendwas mit der Zunge gemacht werden musste. Auch jetzt konnte ich mir nicht vorstellen, dass das wirklich so toll war, wie die Erwachsenen immer behaupteten.
Allerdings hatte ich mittlerweile eine Vorstellung von dem Kavalier, dem ich mit Rüschen und Reifrock begegnen könnte. Ich war mir sicher, dass der Gärtnerjunge in anderen Kleidern umwerfend aussehen würde. Auch in solchen, wie sie die Perückenkameraden auf den Bildern im Schloss trugen.
Der Efeugang war recht lang, er führte um den gesamten Garten herum.
Da sie nicht mehr über den Gärtner spotten konnten, glaubten die Jungs nun, uns Mädchen durch irgendwelche komischen Geräusche, die sie offensichtlich in Uralt-Gruselfilmen aufgeschnappt hatten, Angst machen zu können. Tatsächlich gab es die eine oder andere, die erschrocken aufjuchzte, aber ich hatte den Verdacht, dass sie das nur taten, damit die Jungs sich nach ihnen umsahen.
Am Ende des Bodenganges wurden wir in einen wunderschön angelegten Garten entlassen, von dem aus man auf die Südseite des Schlosses blicken konnte.
»Bestimmt hat da oben die Schlossherrin oder die Lieblingsmätresse des Herzogs gewohnt«, bemerkte Anett, während sie auf die Fassade des Schlosses deutete. »Den ganzen Tag über hatte sie nichts anderes zu tun, als in einem prächtigen Gewand am Fenster zu sitzen, in den Garten zu schauen, Weintrauben und Konfekt zu naschen und sich mit einem Fächer aus Straußenfedern Luft zuzufächeln.«
»Wie gut, dass diese Zeiten vorbei sind«, bemerkte nun Nicole, die zuvor die ganze Zeit über geschwiegen hatte. »Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, den ganzen Tag am Fenster zu sitzen und schmachtend auf meinen Prinzen zu warten. Das wäre mir echt zu öde.«
Da musste ich ihr recht geben, meine Welt wäre das auch nicht.
»Und was willst du dann machen?«, fragte Anett, die wohl gerade noch so schön in ihrer Vorstellung geschwelgt hatte.
»Ich will mich an einer Modeschule bewerben und Modedesignerin werden!«, verkündete Nicole. »Mit der Mappe, die man dazu braucht, habe ich bereits angefangen.
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