Kirschenküsse
Neidisch angesehen hatten mich ja so einige.
Carla hatte nach der Nachtwanderung damit zu tun gehabt, ihre Mückenstiche mit Kühlgel zu verarzten, und außerdem war es schon sehr spät gewesen, als wir wiederkamen. Da wird sie doch morgens nicht extra früher aufgestanden sein, um sich in den Seminarraum zu schleichen, oder? Allerdings war ich am See gewesen und hätte deshalb nicht mal merken können, ob sie heimlich aus dem Zimmer verschwunden war.
Nicole schied aus, denn die hatte mit der Migräne zu tun gehabt und tief und fest geschlafen und war wohl kaum während unserer Nachtwanderung oder am frühen Morgen aus dem Bett gekrochen. Außerdem hatte sie mich nicht neidisch angesehen, sondern mir aufmunternd zugelächelt.
Und Anett kam sowieso nicht infrage.
Und die anderen? Die kannte ich viel zu wenig, um einschätzen zu können, ob so viel Neid oder Siegeslust in einem von ihnen steckte, dass er oder sie einfach mein Modell zerstörte.
»Nein, ich glaube, dass es Norman war«, beharrte ich deshalb. »Ich kenne ihn aus der Schule und ich glaube kaum, dass es einen größeren Idioten gibt als ihn. Ihm würde ich wirklich alles zutrauen.«
Anett blickte mich noch kurz zweifelnd an, dann zuckte sie mit den Schultern und wandte sich dann wieder ihrem Buch zu.
Offenbar gab es heute keinen Tanzabend oder Ähnliches, sodass ich mich jetzt voll und ganz der Frage widmen konnte, was ich zu meinem Date mit Thomas anziehen sollte. Gerne hätte ich Mona dazu befragt, aber die hatte ja noch nicht mal auf meine SMS von heute Vormittag reagiert …
Den ganzen restlichen Abend über fühlte ich mich hibbelig. Nach dem blöden Vorfall heute Vormittag – samt Schwanangriff! – und meinem darauffolgenden Stimmungstief hatte sich der Tag komplett in die andere Richtung entwickelt. Die Vorfreude auf heute Abend und die Freude darüber, dass ich bleiben und doch noch am Wettbewerb teilnehmen konnte, ließ mich nur noch grinsen.
Aber ich fragte mich natürlich auch, wie es wohl heute Abend mit Thomas allein im Park sein würde. Die schönsten Fantasien, aber auch die schlimmsten Horrorvorstellungen gingen mir durch den Kopf.
Nicht dass ich Thomas für einen verrückten Axtmörder hielt, aber es konnte so allerhand passieren. Zum Beispiel, dass wir von einem Schwarm Mücken überfallen würden, in dem Augenblick, wo er vielleicht knutschen wollte. Oder dass ich mich beim Knutschen blöd anstellte! Schließlich hatte ich das noch nie gemacht! Oder vielleicht wollte er gar nicht knutschen und würde mich auslachen, wenn ich die Lippen spitzte. O Gott!
Ich wusste nicht, was die schlimmere Vorstellung war.
Meine Hände waren schweißnass und immer wieder blickte ich zu den anderen Mädchen, voller Angst, dass sie mir meinen Seelenzustand ansehen könnten.
Aber die waren alle beschäftigt. Nicole immer noch mit ihren Entwürfen (was allmählich langweilig und nervig wurde, denn man konnte in ihrem Alter doch nicht nur auf seine bevorstehende Karriere hinarbeiten!), Anett schrieb ein paar Postkarten, die sie sich hier im Laden gekauft hatte, und Carla fummelte an ihrem iPod herum, nachdem sie sich darüber beschwert hatte – diesmal allerdings murmelnd –, dass es in diesem Schloss nicht einmal einen Fernsehraum gab.
Da ich mich auf nichts hätte konzentrieren können und noch nicht mal dazu fähig war, weiter in meinem Tagebuch zu schreiben, schaute ich immer wieder auf die Uhr und wartete darauf, dass die Zeiger etwas mehr als wenige Sekunden oder Minuten hinter sich brachten.
Nach einer Weile begann mein Abendbrot in mir zu rumoren und mein Bauch zu kneifen. Zuerst dachte ich, dass der Leberkäse, den ich gegessen hatte, vielleicht nicht mehr gut gewesen war, doch da mir nicht übel würde, musste das wohl von der Aufregung kommen.
Plötzlich wurde ich von Panik durchflutet, dass irgendetwas schiefgehen könnte. Tausende Angstvorstellungen brauten sich in meinem Kopf zusammen. Was war, wenn Thomas nicht rausgelassen wurde? Wenn mich jemand bemerkte, wie ich aus dem Zimmer schlich? Oder wenn mir Herr Heidenreich auf dem Gang begegnete (womöglich noch im kurzen Pyjama, was meiner persönlichen größten Horrorvorstellung recht nahekam). Was, wenn die anderen argwöhnisch geworden waren, weil ich vorhin in meiner Tasche herumgewühlt und meine besten Sachen rausgesucht hatte? Carla wechselte mindestens zweimal am Tag die Klamotten, aber nicht ich!
Endlich rückten die Zeiger auf halb zehn und Nachtruhe wurde
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