Kirschenküsse
Wunden, hieß doch dieser schlaue Spruch. Von mir aus, aber wieso gab es keine einheitliche Zeitspanne von, sagen wir, zwei Minuten, nach denen Kummer und Schmerz wieder vergangen waren? Wieso musste jeder Kummer so lange dauern, wie er dauern musste?
Obwohl ich in der Nacht nur wenig Schlaf bekommen hatte, war ich schon früh am Morgen wieder hellwach. Die Regenwolken waren immer noch da, und sie wirkten wie graue Watte, die vom Himmel herabhing. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, aber es war anzunehmen, dass weiterer folgen würde.
Wahrscheinlich war meine innere Uhr daran schuld, dass ich schon auf den Beinen war. Sonst war ich ja um diese Zeit immer zum See gelaufen. Doch heute würde mich nichts und niemand dorthin bringen.
Ich blickte rüber zum Bett meiner Rivalin. Wie konnte die so seelenruhig schlafen? Hatte sie denn überhaupt kein schlechtes Gewissen?
Schon im nächsten Augenblick kam mir die letzte Frage ein wenig albern vor. Carla und ein schlechtes Gewissen passten nun wirklich nicht zusammen. Und sie wusste ja auch nur, dass Thomas und ich einmal zusammen im Park waren, nicht dass wir … Ja, was waren wir denn eigentlich? Miteinander gehen konnten wir unseren Zustand wohl nicht nennen. Wir hatten uns geküsst, einmal. Das war alles. Wahrscheinlich bedeutete das ebenso wenig wie die Münzen im Brunnen oder unsere gemeinsame Liebe zu Kirschen.
Trotzdem war ich supersauer auf Carla. Und froh, dass morgen alles vorbei war und wir wieder nach Hause fuhren. Dann musste ich sie wenigstens nicht mehr sehen und lief nicht Gefahr, Thomas über den Weg zu laufen. Gab es nicht auch einen Spruch, dass Abstand alle Wunden heilte? Hm, vielleicht nicht, aber ich glaubte – oder redete mir zumindest ein –, dass auch daran etwas Wahres war.
Nach und nach wachten schließlich auch die anderen auf.
»Guten Morgen, Lerche«, begrüßte mich Anett. »So früh auf und nicht beim Morgenspaziergang?«
»Nein, heute nicht«, entgegnete ich und schnappte mir mein Waschbeutel. Dass ich glaubte, Carla würde mich hämisch von der Seite angrinsen, ignorierte ich.
»Weißt du schon, was du morgen bei der Abschlussfete anziehen wirst?«, fragte mich Anett, als wir unsere Frühstückstabletts zu unserem Stammtisch trugen. Zum vorletzten Mal. Um das Frühstück hier würde es mir doch ein wenig leidtun. Auch wenn ich heute auf mein Kirschteilchen verzichtet und stattdessen zur Mohnschnecke gegriffen hatte. Nicht dass ich es über geworden wäre, aber in meiner jetzigen Situation konnte ich den Geschmack von Kirschen und die damit verbundene Erinnerung an Thomas’ Kuss nicht ertragen.
»Abschlussfete?«, fragte ich verdattert. Offenbar hatte ich mal wieder nichts mitbekommen. Klar, wenn man zuerst an nichts anderes denken konnte als an einen süßen Jungen und sich dann den Kopf darüber zerbrach, dass er ein Casanova war.
»Ja klar, Abschlussfete, war doch im Prospekt zu lesen«, entgegnete sie und begann, ihre Fruit Loops zu essen.
Klar, im Prospekt stand es. Wahrscheinlich hatte ich es überlesen oder vergessen – oder sogar einen ganz anderen Prospekt als sie.
»Keine Ahnung, was ich dazu anziehe«, entgegnete ich und tat so, als würde ich mich wieder erinnern.
»Also ich hätte ja zu gern mein Kleid angezogen«, sagte Anett. »Schade, dass es erst noch zusammengenäht werden muss.«
»Du wirst sicher was anderes finden«, tröstete ich sie halbherzig, und Anett merkte, dass ich mit den Gedanken ganz woanders war.
»Willst du mir nicht vielleicht doch erzählen, wer dieser Kusstyp ist, von dem du gestern gesprochen hast? Dich scheint es ja doch ziemlich erwischt zu haben.«
»Wie kommst du denn darauf?«, entgegnete ich und versuchte, so zu tun, als gäbe es gar keinen Grund dazu. Das klappte natürlich nicht besonders gut, deshalb biss ich schnell von der Mohnschnecke ab, um irgendetwas im Mund zu haben und nicht sprechen zu können. Die Schnecke schmeckte nach Pappe und ich hatte auch keinen Appetit, aber ich biss trotzdem schnell noch einmal ab.
Anett war jedoch geduldig. Sie musterte mich, als hätte sie mein Manöver durchschaut, dann sagte sie: »Na ja, wenn du mich fragst, siehst du aus, als hättest du handfesten Liebeskummer.«
Tja, und wenn ich gefragt werden würde, könnte ich eindeutig behaupten, dass Anett besser Psychologin und keine Modedesignerin werden sollte.
»Ich habe keinen Liebeskummer«, behauptete ich dennoch felsenfest, denn ich wollte nicht, dass Anett meinen Dr. Love
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