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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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ohne Mischa vielleicht für immer Nadeshda verloren hätte. Mischa riet mir damals, nichts zu tun. Bitte einmal nicht handeln. Das sagte er. Nicht handeln. Arik sei, wie er sei, aber Nadeshda sei trotz allem eine echte Freundin, sie sei ein berührbarer Mensch, sie würde mich lieben. Ich wartete, tat nichts, und irgendwann erzählte mir Nadeshda alles. Ich hörte ihr zu. Wir weinten und es dauerte lange, bis ich ihr glaubte, dass es nicht sie war, die Arik angesprochen hatte. Es war Arik, der sie genauso wie mich ins Visier genommen hatte.

zweiter tag
    Anfangs ging ich in Paris regelmäßig zu den Vorlesungen. In einem Seminar über Platons Lehrbeispiele lernte ich Hiromi kennen. Sie tippte mir mit dem Zeigefinger von hinten auf die Schulter und bat um Papier. Wir lasen gerade das Höhlengleichnis, in dem es um Menschen geht, die von Kindheit an in einer unterirdischen Höhle gefesselt sind. Sie können sich nicht bewegen, nicht einmal ihre Köpfe. Die ganze Zeit starren sie auf die ihnen gegenüberliegende Höhlenwand. Wenn hinter ihnen ein Feuer brennt und Licht in den Raum wirft, fragte der Professor, was sehen sie dann? Richtig, ging er auch schon selbst zur Antwort über, sie sehen nur die Schatten der Bilder und Gegenstände, die hinter ihrem Rücken an einer Mauer entlang vorbeigetragen werden. Ich gab Hiromi ein paar Blätter, und sie sagte, wenn wir der Welt der verschachtelten Schatten hier entkommen, wollen wir nachher etwas trinken gehen? Ich nickte, und als das Seminar vorbei war, gingen wir den Boulevard Raspail entlang und suchten uns ein schönes Café. So fing unsere Freundschaft an.
    Die Schnelligkeit der Stadt überforderte mich. Die Laute, Sätze, Geräusche sprachen auf meinen Spaziergängen förmlich auf mich ein. Meine Lücken nahmen von Tag zu Tag zu. Manchmal spürte ich, wie sich in meinem Kopf ein dumpfer Raum auftat und wie sich danach etwas in mir staute. Wie von unsichtbarer Hand gelenkt, fiel mein Kopf nach hinten. Wenn ich während der Vorlesungen in dieser Haltung kurz die Augen schloss und durchatmete, wusste ich oft nicht, wie viel Zeit vergangen war. Eine, zehn oder dreißig Minuten konnte ich mit geschlossenen Augen verbracht haben. Auch wenn ich in der Stadt unterwegs war, mitten in Paris, fühlte ich, wie die Dumpfheit der drohenden Lücken sich meiner bemächtigte. Und wieder wusste ich nicht, ob ich meine Métro-Station verpasst oder im Café, beim Bäcker, im Museum die Leute mit meinem in den Nacken gelegten Kopf befremdet hatte. Ich ging, sobald ich wieder im Augenblick angekommen war, einfach weiter, tat auch vor mir selbst, als sei nichts geschehen, als sei auch für mich alles im Fluss geblieben, mein Herzklopfen, meine Schritte, das, was sich vor mir in den Straßen abspielte und das, was sich hinter mir ereignete.
    Wie meine Eltern geplant hatten, wohnte ich zunächst bei Tante Mila. Einmal schickte sie mich zu ihrem Nachbarn im dritten Stock, weil sie Milch brauchte. Sie meinte, er sei ein netter alter Herr, sehr hilfsbereit. Mischa Weisband öffnete die Tür, wenig später nur zeigte er mir sein Paris, seine Blauglockenbäume, seine Vögel. Wir tranken anfangs jeden Nachmittag einen Tee zusammen und schließlich gewöhnten wir uns an, mittags in Sophies kleinem Restaurant an der Bastille eine Kleinigkeit zu essen.
    An der Universität hatte man mir ein Stipendium gegeben. Als ich vor die Kommission trat, die es vergab, spürte ich, dass die Professoren mir wirklich helfen wollten. Zugleich huschte so etwas wie empörte Enttäuschung über ihre Gesichter, als ich ihnen sagte, dass ich bereits vor dem Krieg geplant hatte, hier in Paris Philosophie zu studieren und mich auch schon im Beisein meines Vaters immatrikuliert hatte. Das Sekretariat wurde von einer nervösen Aufregung erfasst, weil irgendjemand sagte, auf diese Weise dürfe das Ganze nicht zu Protokoll genommen werden. Da mein Französisch damals nicht sehr gut war, dachte ich, es liege an dem kleinen Vogel, der während dieser Unterredung mit mir irgendwie ins Zimmer hineingefunden hatte. Aber es stellte sich heraus, dass es nicht an dem Vogel lag. Der Vogel flog offenbar jeden Tag mindestens einmal ins Sekretariat der Philosophischen Fakultät und man hatte sich an ihn gewöhnt. Die Aufregung war ganz allein meiner ehrlichen Auskunft geschuldet, dass ich auch unter anderen Umständen in Paris studiert hätte. Das musste nun im Protokoll gestrichen und das Wort Krieg aufgenommen werden. Ob mir das recht

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