Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
begonnen, über die Dinge zu reden, die sich im Frieden ereignen. Das Wort Frieden sagt sie fast in einem für mich neuen abfälligen Ton. Das, was sie jetzt Frieden nennen, sagt sie, und ich spüre ihre Verachtung in jedem ihrer Worte, spüre, dass es so weit war, dass sie jetzt hassen konnte, vielleicht, ohne es selbst zu bemerken. Oder kann man nur so hassen, nur dann, wenn man es nicht bemerkt?
Bei ihrem letzten Besuch hat sie mir fortwährend von meinem Jugendfreund Mateo erzählt. Früher hat er bei meiner Großmutter Inge im Garten gearbeitet. Jetzt ist er einem Verein beigetreten, dessen erklärtes Ziel es ist, die Sprache zu reinigen. Mateo kannte ich aus den Sommern in Istrien. Er war ein sehr schöner schüchterner Junge. Alle Mädchen im Dorf waren in ihn verliebt. Ich auch ein bisschen, aber nicht, weil er schön war, sondern weil er schüchtern war und weil er Philosophie in Mailand studieren wollte und ich einen Verbündeten auf der anderen Seite der Grenze gut gebrauchen konnte. Ein wenig Italien sah ich ihm schon an, ich verlangte, dass er mir Wörter beibrachte und mit mir italienisch redete. Er war es auch, der mir erklärte, was jenes con sordino i polako eigentlich hieß, eine Wendung, die die alten Leute auf dem Dorfplatz ständig wiederholten, wenn einer hektisch wurde. Langsamkeit war ihnen heilig. Die Behäbigkeit der Sommer, sie wurde den Alten zur Tugend, und ich lernte von ihnen in meiner Kindheit alles über Bedachtsamkeit, ohne dass sie je das Wort gebraucht oder mir eine Erklärung geliefert hätten. Wenn ich grundlos einem Bus hinterherrenne, denke ich heute noch an ihre Umsicht, bleibe stehen, muss lächeln, weil ich mir vorstelle, dass die Alten mit den Händen abwinkten, wenn sie mich dieserart in Eile sähen, ganz so, als wollten sie mir im Hier und Jetzt sagen, ich sei ein hoffnungsloser Fall. Dabei liebe und übe ich die Langsamkeit, wo immer ich nur kann, lasse ich mich von ihr führen. Sie ist meine große Sehnsucht und eine Lehrerin, ohne die ich nicht mehr sein möchte.
Ich weiß nicht, wie es dazu kam, dass ausgerechnet Mateo ein, wie meine Mutter meint, überzeugter Nationalist wurde. Nichts lasse er auf seine hehre Nation kommen, erklärte sie. Ihr Zorn war geradezu körperlich spürbar. Als ich sie an die Sommer von früher erinnerte, wollte sie nichts davon wissen. Sie verweigerte einfach die Erinnerung an eine Zeit, in der Mateo ein ganz normaler junger Mensch gewesen war. Sie zürnte über alles, was mit der Vergangenheit zu tun hatte, und ich brauchte nur Mateos Namen zu nennen, und ihr Zorn entlud sich wie ein Wasserfall aus großer Höhe. Ihre über Jahre angestaute Wut überforderte mich. Sie wurde mir fremd und ich schwieg. Aber ich dachte an Mateo und jenen Satz von Diogenes, den er so oft zitiert hatte: Die Sklaven dienen ihrem Herren, die Nichtsnutze ihren Begierden. Ist Mateos Angst eine Begierde geworden? Und wenn ja, von welchem Mangel lenkte sie meinen Kindheitsfreund ab?
Die Männer von der Umzugsfirma haben mir alles in den fünften Stock hochgetragen, einen alten Kleiderschrank, den ich auf dem Trödelmarkt auf der Straße des 17. Juni in Charlottenburg gekauft habe, ein Sofa mit prachtvollem Blumenmuster, ein Geschenk von Nadeshda und Großmutters istrischen Tisch. Ich habe die Fotos darauf ausgebreitet. Jetzt gehört der Tisch mir. Eines Tages erklärte Tante Sofija bei einem meiner Wochenendbesuche in Meudon mit feierlicher Stimme, der Tisch sei ihr Geschenk an mich. Ich wusste, wie viel ihr dieses Erinnerungsstück bedeutete. Aber sie war eine großzügige Frau, und die beiden hatten keine eigenen Kinder. Dankbar nahm ich den Tisch an. Onkel Milan und Tante Sof ij a ließen ihn mir nach Paris schicken. Und als er in Hiromis Wohnung stand, sagte meine Tante, pass auf das gute Stück auf, dein Onkel hat mir an diesem Tisch seinen Heiratsantrag gemacht.
Nun wohne ich zum ersten Mal ganz oben, Berliner Altbau, fünfte Etage, die Vögel haben, von meinem Balkon aus gesehen, ein großes Stück Himmel, der nur ihnen gehört. Sie müssen ihn mit niemandem teilen. Ich zähle die Schwalben. Heute sind fünfunddreißig an meinem Fenster vorübergeflogen. Ich fühle mich von ihnen begrüßt, stelle mir vor, dass ein kleiner blauer Vogel durch meinen Verstand fliegt. Vielleicht kann er mir helfen, in der Gegenwart zu leben. Der Sommer macht es möglich, dass selbst die Erinnerung langsam zu Atem kommt. Ich bin fast ein bisschen fröhlich wegen dieses neuen
Weitere Kostenlose Bücher