Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
regelrecht geplündert und achtlos unsere Sommer in diese Plastiktüten einer deutschen Drogeriekette hineingeworfen haben. Nachträglich legt sich so ein Schatten auf die Fotos. Nichts hat mehr eine Ordnung. Das macht sie immer so, wenn sie sich nicht mit etwas beschäftigen, wenn sie nur wegschauen will, bringt sie erst einmal alles durcheinander. Ob Briefe, Fotos oder Filme, sie packt alles in irgendeinen Karton und wirft es irgendwann fort, ohne noch einmal hineinzusehen. Immerhin hat sie jetzt nichts fortgeworfen. Sie hat es einfach an mich delegiert. Aus ihrer Sicht entfernt. Und sie muss die Forderung nicht einmal aussprechen, die damit einhergeht. Ich spüre, dass mich mein altes Erstickungsgefühl wieder überwältigt. So war meine Mutter schon immer, sie wartet alles ab, redet nicht über das, worüber geredet werden muss. Wenigstens habe ich das schon einmal verstanden. In meinem Kopf ist eine Tür aufgegangen. An die Sommer von damals erinnere ich mich gerne. Mutters Blick weicht mir immer aus, wenn ich anfange Fragen zu stellen. Seit der Krieg vorbei ist, kann sie sehr gut schweigen.
Immer machte jemand Fotos. Jahr für Jahr ging das so, als hätten wir nicht für uns, sondern für unser Gedächtnis Beweise gebraucht, Beweise gemeinsamer Sommertage, Beweise unserer Haut, unserer großen Abendessen und kleinen Mittagsschläfchen. Menschen, die sich einmal nahe waren, sitzend unter Feigenbäumen, das waren wir, so sah das Glück aus, wir mussten nur die Früchte ernten, sie waren so nah, leuchtend und prall in ihrer verlockend violetten Reife. Die Palme hinter dem Haus ist auf einem der Fotos zu sehen. Auch die alte Sommerküche. Die Erdbeeren. Die Pfirsiche. Die gegrillten, die panierten Sardinen. Ich kann den Fisch geradezu riechen. Die Sinne verknüpfen sich mir von alleine. Der schöne alte Marktplatz mit der kleinen Kirche des Heiligen Stefano. Der weiße Stein dalmatinischer Sonneninseln. Die Alten Römer und ihr Imperium, überall Reste dieser anderen Zeit, überall, so sagte es meine Mutter, ein Menschheitsgedanke neben dem anderen. Die venezianischen Fenster, das Glaswerk, istrischer Stein in Venedig, ja, ohne unseren Stein hätten die nichts erreicht, Mutter und ihr Stolz, Mutter und ihre Richtigstellungen. Aber wichtiger und schöner und wilder als alles ist uns Kindern die rote Erde. Sie ist überall. Zwischen unseren Zehen. In unseren Ohren. Nach der Bora ist alles rot, staubig rot unsere Haut, die Erde in den Haaren, Augenbrauen, in der Nase. Ihr seid nicht dreckig, sagt man uns, sondern sauber, die Erde reinigt euch. Wir sitzen unter dem Feigenbaum meiner Großmutter. Und die Früchte leuchten violett, während die Frauen uns die Erde heilig reden. Mehr als Gebete reinigt euch die Erde, sagen sie. Wir lachen. Das stimmt nicht, der Pfarrer wird protestieren. Aber es ist betörend, was sie sagt, wir lieben die Erde mehr als alle Worte, die man uns beibringt, mehr als alle feststehenden Gebete. Die Ortsschilder sind in beiden Sprachen aufgestellt. Das Nachflirren der italienischen Wörter in meinem Kopf, eine besondere Sicht auf die sommerlichen Landstraßen, alles ist doppelt da, das ganze Leben ist immer mehr als ein Singular, die Sprache sagt es, auf den Ortsschildern steht es. Als Kind habe ich ein bisschen Italienisch gelernt und immer wenn ich unglücklich war, wollte ich nach Italien auswandern. Zu den Giovannis und Giovannas. Fort von den Ivans und Ivanas.
Manchmal verschwand ich stundenlang und lief barfuß am Strand, immer die Küste entlang nach Norden, ich wollte es unbedingt zu Fuß bis Triest schaffen. Wenn ich dann nach einer Stunde oder zwei Hunger bekam, kehrte ich wieder zurück und meine Mutter sah es mir an, bemerkte es jedes Mal, dass ich erneut fortgelaufen war und fragte mich, ob ich wieder nach Italien ausbüxen wollte. Sie sah es einfach an meinem Gang, an der ganzen Körperhaltung, in der ich zurückkehrte, entmutigt, unglücklich, über so wenig Ausdauer und Kraft zu verfügen.
Die Fotos, die ich auf dem Küchentisch ausgebreitet habe, sind mir am Morgen förmlich in den Schoß gefallen, als ich die Kisten hochheben und in das andere Zimmer tragen wollte. Jetzt habe ich das Gefühl, dass sie überall sind, dass meine Mutter kiloweise Erinnerung über die Grenze getragen und bei mir in Berlin abgeladen hat. Sichtbar. Unumgänglich. Sie selbst spricht nicht viel über die Zeit vor der Belagerung, aber auch wenig über das, was später geschah. Seit neuestem hat sie
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