Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
sei, fragte man mich, ja, sagte ich und vergaß in diesem Augenblick, mich in aller Form für das Stipendium zu bedanken.
Das Leben mit meiner Tante war komplizierter, als es aus der Ferne ausgesehen haben mag. Was vorher meine Freiheit gewesen war, wurde nun mein Kummer. Ich wurde das Gefühl nicht los, meiner melancholischen Tante Mila, aller Liebe und Verwandtschaft zum Trotz, auf Dauer lästig zu sein. Sie lebte seit Jahren immer in der gleichen Wohnung im oberen Teil der rue de la Roquette und hing einer unglücklichen Liebe nach. Nur mühsam fand ich heraus, dass es sich um einen Mann handelte, der einen Raub verübt hatte. Sie schämte sich, mir mehr darüber zu erzählen, und ich fragte auch nicht weiter nach.
Anfangs gingen Mila und ich oft zum Boulevard Beaumarchais, sahen uns die Geschäfte und Wochenmärkte an, machten kleine Spaziergänge. An der Bastille kannte ich schon alle Cafés, wo wir einkehrten und etwas tranken, und manchmal gingen wir auch gemeinsam ins Kino. In einem der umliegenden Cafés las ich an den Nachmittagen immer die Zeitung. Ich suchte alles nach Nachrichten von der belagerten Stadt ab, kaute an den Nägeln und bemerkte nicht, dass mich ein Mann dabei die ganze Zeit ansah oder, wie er es später einmal ausdrückte, schon im Visier hatte. Das war Arik, der einen männlichen und einen weiblichen Namen hatte, je nachdem, ob man ihn von vorne oder von hinten las. Jetzt frage ich mich, wie lange Arik mich wohl beobachtet hatte, ob er meine Aussetzer bemerkte oder ob es einfach der Zufall, das Pech oder das Glück war, das ihn mir an jenem Tag in mein Leben brachte. Hinter mir war eine verspiegelte Wand. Ich sah Arik in jenem Moment, als die Sonne auf meinen Tisch fiel, es war sein Schatten, der sich mir als Erstes zeigte. Er trat an meinen Tisch und fragte mich, ob er sich setzen dürfe. Ich hatte keine Lust auf ein Gespräch mit einem Fremden und machte irgendeinen Witz, aus dem hervorgehen sollte, dass ich mich gestört fühlte. Aber Arik lächelte mich nur an und setzte seinen Hut auf, bezahlte seinen Crème und sagte, na, dann ein andermal, ja? Vielleicht bis morgen? Ich sah auf seine Hände, nickte verschüchtert, beinahe gehorsam, worüber ich mich gleich ärgerte. Er wird es als Einladung auffassen und mich morgen wieder ansprechen, dachte ich. Ich glaube, ich hatte ein wenig Angst vor ihm, jedenfalls strahlte er einen Augenblick lang etwas Unheimliches aus. Anderntags zog es mich wieder zu diesem Café, dabei hätte ich ohne weiteres ein anderes wählen können. Meine Verstörung rührte nicht nur von meinem zustimmenden Nicken, sondern auch von der Faszination, die Ariks Stimme und seine großen, starken Hände auf mich ausübten. Es kam mir vor, als hätte ich alles andere an ihm übersehen, diese Hände aber dringend sehen müssen. Am nächsten Tag trafen wir wieder aufeinander. Er stellte sich ein zweites Mal vor, sagte erneut seinen von hinten und von vorne lesbaren Namen. Und dann begann das, was wir später alle, vor allem Nadeshda und ich, die Sache mit Arik genannt haben.
Mit der Métro fuhr ich jeden Tag zum Boulevard Raspail, ich besuchte Vorlesungen und Seminare, schrieb mich in Kurse ein, lernte alles geradezu auswendig, dabei kam es mir absurd vor, überhaupt etwas zu tun. Mit Hiromi saß ich in mehreren Seminaren. Wir hatten uns angefreundet und verbrachten viel Zeit miteinander. Als mir Tante Milas Melancholie zuzusetzen begann, lud sie mich zu sich ein und ich übernachtete immer wieder bei ihr. Ihre Eltern finanzierten ihr eine geräumige Wohnung. Wenige Wochen später zog ich ganz zu ihr. Hiromi wollte kein Geld von mir haben, aber ich handelte mir das Recht aus, für unsere Einkäufe zu sorgen. Wir redeten über Bücher, Musik, Filme und über Liebeskummer von früher. Und mir fiel in diesen langen Nächten mit Hiromi etwas ein, das ich seit meiner Kindheit niemandem erzählt hatte. Es hatte mit Kleidern zu tun, mit meiner Mutter, die mich immer nach ihrer Vorstellung anzog und dann meinem Vater präsentierte, der darüber befand, ob es schön aussah. Manchmal zog sie mich mehrmals am Tag um. Ideen, so nannte meine Mutter das, was für mich diese Verkleidungsorgien waren. Warum hast du dieses Elternspiel vergessen können?, fragte Hiromi verwundert. Ich wusste darauf keine Antwort. Aber mit ihr entdeckte ich eine neue Freude an Stoffen und Mustern. Von Hiromi lernte ich das Nähen von Grund auf. Sie besuchte, neben unserem Philosophiestudium, an den
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