Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
zeigten mir, dass ich mich selbst nie genauer angesehen hatte, dass ich nichts über mein Gesicht wusste, das mir jeden Morgen als mein sichtbares Selbst im Spiegel gegenübertrat. Was aber war damals Ariks Absicht? Verfolgte er von Anfang an eine Idee? Vielleicht hatte er überhaupt keinen Plan und keine genaue Vorstellung davon, was er später mit all den Fotos machen wollte. Er sammelte die Welt, die ihn umgab. Woran er damit genau arbeitete und welche Bedeutung sein Archiv für ihn hatte, werde ich nie erfahren. Was auch immer ich und Nadeshda über seine Absichten denken, es wird nicht die ganze Wahrheit berühren und jede von uns gefundene Wahrheit wird eine andere verdecken.
Ich schmiss auch die schönen Pullover alle fort, die Arik und ich im Kaufhaus La Samaritaine gefunden hatten. Nur einen gelben behielt ich, den Arik in der Bretagne bei unseren Spaziergängen mit Gustave getragen hatte. Die warme Decke, die er mir damals gekauft hatte, warf Signora Souza auch weg. In all diesen Dingen wohnte meine Erinnerung, in ihnen waren Tage und Nächte, Spaziergänge, Gespräche, das ganze Glück und Unglück unserer Jahre gespeichert, ganz so, als hätte jedes Gewebe, jedes Material für uns mitgedacht, und deshalb musste ich alles wegwerfen, um das Vergessen zu erlernen. Als die Wohnung endlich leer war, sahen Signora Souza und ich uns zum letzten Mal in den von meiner Vergangenheit befreiten Zimmern um. Sie ging nach mir raus und schloss ab. Unten auf der Straße umarmten wir uns lange zum Abschied, wortlos, es gab nichts mehr zu sagen. Im Hotel packte ich meinen Koffer, ging noch einmal zu Sophie, aß mit Mischa und Dora zu Mittag und verabschiedete mich von ihnen und dem Blauglockenbaum hinter dem kleinen Restaurant. In die Bretagne wollte ich erst in ein paar Monaten fahren und Nadeshda und Ezra mitnehmen. Es war mir unmöglich nach Ariks Begräbnis, allein ans Meer zu fahren.
Im Flugzeug nach Berlin saß eine stark geschminkte blonde Frau neben mir. Sie las ein Buch von Virginia Woolf, es war Orlando , die überzeitliche Biographie und die Geschichte einer Reise in andere Leben und Jahrhunderte. Auf der gerade aufgeschlagenen Seite konnte ich, bevor das Flugzeug in Berlin-Tegel landete, folgenden Satz lesen: »Die wahre Länge eines Menschenlebens ist, ungeachtet dessen, was das Dictionary of National Biography sagen mag, immer eine strittige Angelegenheit.« Nadeshda holte mich am Gate ab. Sie hatte Apfelkuchen gebacken, ich roch die Äpfel in ihrem Haar, sah die Tiefe des Lächelns in ihrem Blick. Diese Tiefe sehe ich jetzt immer. Es ist kein Geheimnis, vielmehr eine konkrete Stelle in ihrem Wesen, an der sich alles in ihrem Inneren verbindet, rührt, aufrührt und berührt, wenn sie mit anderen Menschen spricht. Ihr Inneres ist mit der ganzen Weite der äußeren Orte verbunden, mit allen Wegen und Zugstrecken, auf denen sie als Reisende unterwegs war. Sie trägt sie in sich, diese Orte, diese Wege. Sie ist all das geworden, was sie gesehen hat. Wenn sie bei mir ist, weiß ich, dass auch ich weit gereist bin und dass die Umwege mir am meisten geholfen hatten, hier anzukommen. So gesehen war es keine Flucht, eine solche ist unmöglich. Ein neues Leben ist immer die Summe eines alten. Das weiß ich, das habe ich vor allem im Vögelchenzimmer gelernt. Schweigend. Sieben volle Tage bin ich jetzt in der neuen Wohnung zu Hause. Meine Gedanken sind im leeren Zimmer zur Ruhe gekommen, sie haben sich schlafen gelegt und manchmal, und heute ganz deutlich, habe ich das Meer dabei gehört, mein erstes Meer, seine Wellen, die am Ufer leise auslaufen. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren habe ich mich im warmen Glück an meine Brüder erinnert, dankbar, dass sie gelebt haben, dass auch sie, genau wie mein Vater, mich an meinen ersten Orten begleitet, sich mit ihrem Lächeln und ihren Worten, mit ihren Bewegungen und Blicken in mich eingeschrieben haben. Das Meer fehlt mir. Am Meer bin ich immer gern gewesen. Arik fehlt mir. Ich habe ihn lieben können, ich war voller Zuversicht, dass er irgendwann in der Lage sein würde, seine Möglichkeiten sein Leben nennen zu können. Ich werde meine Mutter anrufen, sie fragen, was sie nächsten Sommer macht. Am Meer gibt es keine Zeit. Vielleicht kann ich Mateo in Istrien sehen, mit ihm sprechen, ihn fragen, warum er die Sprache reinigen will, warum er etwas besitzen möchte, das ihm gar nicht gehört und nie gehören kann. Das Meer beruhigt mich. Das Meer zwingt mich nicht in die
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