Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
gehabt. Als er endlich seine Vorlesungen beendete, packten wir frohgemut die Koffer. Seine Studenten der Rechtsphilosophie waren alle gleich nach der letzten Vorlesung in den Süden verschwunden. Mutter war mit meinen Brüdern schon seit zwei Wochen in Istrien. Wie jeden Sommer waren sie zuerst ans Meer zu unserer Großmutter Inge gefahren. Sie verwöhnte sie fortwährend mit selbstgemachter Pasta und sorgte mit ländlichen Trüffelrezepten für euphorische Liebesbekundungen ihrer Enkelkinder. Aber berühmt war sie in der ganzen Familie für ihre Bratkartoffeln. Sie waren das einzige, das sie von früher bewahrt hatte und das uns in ihrer istrischen Küche an ihre deutschen Wurzeln erinnerte.
Sonst war ich immer die erste, die nach Istrien fuhr. Ich hätte für Omas Bratkartoffeln und Trüffelorgien mein Leben gegeben. Seit Großvater nicht mehr bei ihr lebte, war sie eine gute Köchin geworden. Die Verlockung aber, allein mit Vater nach Paris zu reisen, war größer als alles andere. Auf dieser ersten Reise nach Frankreich wollten wir uns um meine Einschreibung kümmern und die Verwandten besuchen. Wir freuten uns auf die guten Croissants und den französischen Café Crème, den Vater, ganz und gar ernsthaft, zu den wichtigsten Geheimnissen und Errungenschaften der Grande Nation zählte. Philosophie hin oder her, sagte er, ein Volk, das keinen guten Kaffee servieren kann, hat früher oder später das Nachsehen und fällt der natürlichen Auslese zum Opfer. Übermut und Glück verleiteten ihn zu solchen Sätzen. Das Ganze nannten wir von Ort zu Ort, von Brasserie zu Brasserie unsere große Annäherung und Sondierung des französischen Terrains.
Mit unserem alten Škoda fuhren wir über die Landstrassen und mein Vater erzählte mir von seiner Kindheit, vom Hunger der Nachkriegszeit, und wie stolz er als kleiner Pionier war, wenn er ein großes Wort wie Antifaschismus aussprechen durfte. Später seien Menschen verschwunden und auf die Kahle Insel gebracht worden, und das Glück seiner Pionierszeit sei für immer der gefräßigen Vergangenheit in den Schlund gefallen. Wir aßen in kleinen Restaurants, und Vater trug mir ein Gedicht von Friedrich Schiller vor, das er seit seiner Kindheit auswendig konnte. Ein Teil seiner Vorfahren stammte aus der deutschsprachigen Bukowina. Ihnen und meiner in Istrien lebenden deutschen Großmutter war es zu verdanken, dass mein Vater Schiller las und seine Sprache liebte. Er brachte sie uns früh bei. Mutter war es mindestens ebenso wichtig, dass wir Französisch lernten. Sie hatte vor der Belagerung schon deutsche und französische Dichtung übersetzt. Morgens beim Frühstück mussten wir immer in der Sprache von André Bréton und Nathalie Sarraute miteinander reden. Manchmal fragte uns Mutter ab, und wir rezitierten dann, vor allem an den heißen Sommernachmittagen, die der deutschen Sprache gehörten, Gedichte von Else LaskerSchüler, Paul Celan, Nelly Sachs. Sie hatte Verse parat wie andere Brot im Haus haben. Aus dem Französischen übersetzte sie einen Vorläufer der Surrealisten, er hieß Saint-Pol-Roux, und meine Mutter liebte ihn schon dafür, dass er sich selbst diesen Namen gegeben hatte. Später übersetzte sie alles von Marguerite Duras und zuletzt, bevor der Krieg ausbrach, arbeitete sie an André Brétons Buch Nadja . Ein Jahrzehnt danach fand ich das Buch bei meiner Freundin Nadeshda in Berlin. Ich entdeckte auch Duras’ Verzückung der Lol. V. Stein in ihrem Bücherregal, sie konnte das ganze Buch nahezu auswendig.
Vater war müde. Er konnte sich nicht aufs Fahren konzentrieren. Wir übernachteten bei einer befreundeten Familie im Friaul. Auf der Weiterfahrt erzählte er mir noch vom Gefangenenlager auf der Kahlen Insel, er sprach seit langem wieder von Onkel Milan und Tante Sof ij a. Ich bekam Sehnsucht nach ihren Gesichtern. Onkel Milan war Architekt und in den späten Siebzigerjahren im ganzen Land für seine antifaschistischen Denkmäler berühmt. Seine raumschiffgroßen Anlagen musste jedes jugoslawische Kind einmal in seiner Schulzeit aufsuchen, spätestens nach der Weihung zum Pionier. Onkel Milan unterrichtete abwechselnd an den Universitäten von Split und Belgrad und war bei seinen Studenten sehr beliebt. Irgendwann fand man in seinem dalmatinischen Haus während der Hundstage, wenn alle Tiere faul in der Sonne herumliegen und jeder sich vor der Hitze ins Innere der Häuser rettet, eine frisch gedruckte sowjetische Zeitung. Das war damals nicht nur
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