Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Vergangenheit. Es überlässt mir nur ihren lebendigen Sinn: die Bewegung, die nie aufhören darf, weil wir sonst ohne Schönheit sterben. Es lässt mich wieder hören, zurückhören, den Tagen unter Großmutters beschützenden Augen nachspüren. Die Wellen kommen und gehen. Ich sehe die Füße meiner beiden Brüder im Sand. Ich liebe ihre Füße. Im leeren Zimmer ist es angekommen, das Meer in meiner Erinnerung, das Wasser, das immer da war, der Urgrund meines Lebens. Ariks Räume wollten mich in den Bauch der Vergangenheit zwingen, mich zurückdrängen in die alten Bilder. Aber ich habe sie ausgeräumt. Habe alles zum Müll getragen. Signora Souza, ein helfender Engel, ist für immer nach Portugal zurückgekehrt. Gestern kam wieder eine Postkarte. Der Sand nimmt ihre Fußspuren auf. Die Wellen kommen. Vater lacht. Das Meer ist grausam und gütig und schnell. Als ich ging, waren Ariks Zimmer ganz leer. Es war eine wohltuende, federleichte Leere. Ich denke an den Strand, an die Bretagne. Die Fußabdrücke sind weg. Das Lachen ist vorbei. Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Arik hatte sehr schöne Hände. Meine Brüder hatten sehr schöne Füße. Mein Vater hatte ein sehr schönes Lachen. Ich erinnere mich, es war wieder einer dieser heißen Augusttage, ich steige vom alten Esel meiner Großmutter, und Vater nimmt mich in die Arme. Er hält mich hoch. So hoch, dass ich glaube, den mit Früchten behangenen Maulbeerwipfel mit meinem Mund berühren zu können. Vater lacht. Ich habe Maulbeerhunger! Meine Brüder schreien, vom Glück überwältigt, dazwischen. Wir wollen auch Maulbeeren essen! Ich werde auf den Boden abgesetzt. Gerechtigkeit! Jetzt sind die Brüder dran. Wipfel, oh Wipfel. Es ist ein Sommertag, heiß, Hundstage, an denen wir uns den Wipfel der Maulbeere und Vaters Lachen teilen. Wir sind Kinder. Wir wissen nichts von den Begrenzungen der Zeit. Ich kehre zurück ins Innere der Bilder. Ich werde die Fotos nicht behalten. Weiter, ins Jetzt. Ich packe sie in eine große Kiste wie in ein Grab. Ich bestatte sie. Für immer. Sie sind die Oberfläche, die Rinde, unter der unser wahres Leben wohnt, die Summe unserer Tage. Ich entferne die Rinde und werfe alles fort. Ich gehe ins Vögelchenzimmer. Es ist leer. Es wird leer bleiben. Auch Ariks Räume sind leer gewesen, als ich hinausgegangen bin, als ich die Wohnung an der Place Dauphine verlassen habe. Weiter, ins Jetzt. Ich weiß es, alles war leer, Signora Souza war meine Zeugin. Und jetzt ist meine erste Woche in der neuen Wohnung vorbei, ich kann wieder das Meer, die Wellen, den Wind hören, ich kann alles hören von früher, ohne dass es ein Gestern wird, ohne es selbst zu werden. An den August denke ich. An das Damals im Hier. Es war mir nie genug, dass ich bin, wie ich bin, ich wollte immer wissen, was der Grund dafür war. Ich wollte mich ändern, um der Mensch zu werden, der ich schon immer gewesen bin, aber ich wusste nichts über mich. Den Ring habe ich, Ariks Ring, ich lege ihn in die Kiste zu den Fotos. Das Meer ist in mir und ich bin im Meer. Ich sehe es, das Blau, die Weite, die Möwen, ohne dass ich mir sagen muss, was ich sehe. Mein Körper schweigt. Er sieht es auch. Ich schweige. Das Kirschholz schweigt. Es spricht einfach nicht. Ich spreche zeitgleich für uns beide. Ich schweige. Ich lasse mich vom Schweigen durchdringen. Den alten Tisch in meiner Küche werde ich behalten. Er soll bleiben, was er ist, ein Zeuge, der alles sieht und der mir zeigt, dass Sehen ändern heißt. Ich habe längst nicht alles verstanden, aber ich kann erzählen, wie das Sehen geht und weiß, dass Worte nicht Augen sind, aber eine Iris haben sie doch. Ich werde ihre Farbe nicht verraten.
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