Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Nachmittagen eine Modeschule. Und alles, was sie dort erfuhr, brachte sie mir geduldig in den Nächten bei. So wurde ich, ohne es anfangs zu bemerken, ganz allmählich zur Kostümbildnerin ausgebildet.
Nadeshda sagt, dass Hiromi und ich die einzigen Menschen auf dieser Welt sind, die sich in Paris beim Nähen über Hannah Arendt, deren Bücher vor mir auf dem Kirschholztisch liegen, unterhalten haben. Ich habe auch einige Kleider in meinen schönen alten Bauernschrank eingeräumt. Nadeshda ist mit Ezra über Nacht bei mir geblieben, und der Junge hat seine Hausaufgaben auf dem Boden, in meinem kleinsten Zimmer, gemacht, das von nun an in seiner Sprache Vögelchenzimmer heißt. Dort ist Ezra am liebsten. Er sagt, das kleine Zimmer sei schon immer das Vögelchenzimmer gewesen und das ganze Blau des Himmels habe Platz in ihm, weil Farben nichts wiegen. Das Zimmer ist im Osten und wenn morgens die Sonne aufgeht, scheint sie zuallererst dort hinein. Ich werde versuchen, es von allen Gegenständen frei zu halten. Der Gedanke an eine solche Leere wirkt beruhigend auf mich. Ein Fenster. Holzboden. Der Blick auf den Himmel. Schwalben, die vorüberfliegen. Und zwei Elstern, die sich in der Dachrinne auf dem Haus nebenan immer treffen. Zwei verliebte Elstern. Im Hof höre ich das Rauschen der Baumkronen, wenn der Wind geht. Ezra sagt, das Vögelchenzimmer sei sein Lieblingszimmer. Und auch daran beruhigt mich etwas so sehr, dass ich vor Glück mit den Zehen wackle, als würden sie von Grashalmen gekitzelt werden.
Wir haben beim Frühstück auf dem Balkon ganze fünfzehn Schwalben gezählt. Ezra weiß schon lange, wie Schwalbenflügel aussehen. Nadeshda war in den letzten Jahren oft mit ihm in Dalmatien, wo sie zur Welt gekommen ist, und ein paar Jahre lang hat Ezra eisern behauptet, dass alle Schwalben (jede einzelne!) im Dorf seiner Mutter geboren werden und sich dann in die ganze große, weite Welt verteilen. Sie fliegen genau dahin, hatte er einmal gesagt, wo sie von den Menschen gebraucht werden. Und als ich nachfragte, woher sie das wüssten, sagte er, dass man sie bestellen könne, dass sie sehr gut hören könnten. Schwalben sind schlaue Vögel. Wir lachten. Ezra hat heute begeistert die Schwalben mitgezählt, so ernsthaft und voller Lust, als ginge es um sein eigenes Leben.
Als Nadeshda und Ezra gegangen sind, habe ich zwei Briefe von Hiromi im Briefkasten gefunden. Aus Tokio. Sie ist nach Japan zurückgekehrt, als ich nach Berlin gezogen bin. Wir haben gemeinsam die Wohnung aufgelöst und viele Kisten gepackt und zur Post getragen. Hiromi schreibt mir oft, aber gesehen haben wir uns seither nicht mehr. Ihre Briefe und Postkarten sind wie kleine Erzählungen, winzige Lebensberichte aus ihrer neuen Straße, aus ihrem Atelier im 35. Stock, wo immer etwas los ist. In einem der beiden Briefe fragt sie, wann ich zu Besuch kommen werde. Beim Anblick ihrer Schrift sehe ich sie unmittelbar vor meinem inneren Auge, sehe ihre Stoffe auf dem Tisch in Paris, sehe sie, wie sie voller Eifer mit Mustern und Skizzen beschäftigt ist. Ich denke an die Geschichte zurück, die sie mir über ihre Mutter erzählt hat, die einmal, als ganz junge Frau und aus einfachsten Verhältnissen kommend, auf einem Markt in einer Kleinstadt eine Händlerin beobachtete. Sie hatte kein Geld, die Marktfrau verkaufte reife, leuchtend gelbe Nashi-Birnen, die sie auf einem violettfarbenen Stoff mit feinem Sternenmuster anbot. Hiromis Mutter liebte den Stoff sehr, sie hatte so gut wie kein Geld, aber kaufte alle Birnen, um sich die Sterne aus der Nähe ansehen zu können. Und am Ende wickelte die Händlerin ihr die Birnen in den Sternenstoff ein und sie bekam ihn auf diese Weise geschenkt. So ist das Leben, hatte meine Freundin damals gesagt. Ich liebte Hiromi für alles, was sie mit mir teilte, aber ganz besonders für diese Geschichte. Sie gehörte zu jenen Menschen in Paris, die ich von Anfang an ins Herz schloss, anfangs, ohne es zu merken. Sie war auf eine so natürliche Weise da, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, sie wieder zu missen. Und alles, was sie sagte, oder die Art, wie sie sich bewegte, lösten in mir ein Wohlbehagen aus, eine Ruhe, wie ich sie selten vorher und nie wieder danach erlebt habe. Hiromis ganzes Wesen schien nahezu ohne Worte auszukommen, aber was gesagt werden musste, war bei ihr sofort benannt. Das gefiel mir auf Anhieb, ich wusste schon damals, wie selten so etwas war. Milas Traurigkeit bedrückte mich zeitgleich dazu,
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