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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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mehr als ich in jenen Tagen zugeben oder verstehen konnte. Kurz bevor ich zu Hiromi zog, war es besonders schlimm. Ich bemerkte, dass meine Tante manchmal heimlich weinte. Wahrscheinlich erzählte sie nichts, weil sie mich mit ihren Problemen nicht belasten wollte. Sie stand lange am Fenster und heftete ihren Blick auf den Baum, der im Hof stand. Und wenn ich mich neben sie stellte und auch aus dem Fenster sah, ging sie weg. Sie hatte einen rätselhaften Blick, lächelte mich bemüht an, fast akribisch, als müsste sie gute Miene zu irgendeinem bösen Spiel machen, dessen Regeln ihr aber nie erklärt wurden. Das Spiel und seine Gesetze waren in ihrem Inneren versteckt. Mir fiel auf, dass ich gar nichts über ihr Leben wusste, eigentlich nur, dass sie die ältere Schwester meiner Mutter war und ebenfalls an der École des Hautes Études studiert hatte und dann wegen einer Liebesgeschichte in Paris hängen geblieben war.
    Mila war wortkarg, ich spürte aber, ganz anders als bei Hiromi, dass sich in ihr ein Wortstau an den anderen reihte. Dennoch war sie immer freundlich und kümmerte sich bei meiner Ankunft gleich um alles, was ich brauchte. Sie hatte meine Carte Bleue bereits bei der Crédit Lyonnais abgeholt. Mila trank jeden Tag Wein. Am Anfang dachte ich, es sei einfach üblich in Frankreich, aber die Franzosen tranken anders, auf eine andere Weise. Sie wurden nicht traurig beim Trinken, jedenfalls nicht die, die man in den Cafés und Restaurants sehen konnte.
    Wenn wir zu Onkel Milan und Tante Sof ij a nach Meudon fuhren, empfingen sie uns warmherzig mit einem Tisch voller Speisen. Aber sie kamen auch oft in die Stadt und führten mich zum Essen aus, oder wir gingen lange im Jardin des Plantes oder in der Bois de Bologne spazieren. An den Wochenenden fuhr ich zu ihnen, dann machten wir Spaziergänge im Wald, gingen zu Fuß nach Versailles, durchquerten das Tal der Bièvres, schwiegen in den Wäldern, die Marina Zwetajewa vor lauter Heimweh nicht gesehen hatte.
    Tante Sof ij a war alt geworden, sie weinte immer, wenn die Rede auf meine Brüder kam, und ich hoffte, dass sie nicht mehr darüber sprechen würde. Der Schmerz lag mir wie eine Gräte auf den Stimmbändern, die mir jedes Mal versagten, sobald ich doch den Versuch machte, mit Tante Sof ij a über die belagerte Stadt zu sprechen. Onkel Milan schüttelte nur verzweifelt und sprachlos den Kopf. Seine grauen Haare hatten etwas anrührend Altmodisches, er trug immer dasselbe Sakko, hatte Falten im Gesicht, das aber trotzdem jugendlich wirkte, und seine Lachgrübchen waren selbst dann zu sehen, wenn er ratlos die Lippen verzog. Wir redeten und redeten, dann brach auf einmal das Schweigen wie ein Dieb zwischen uns ein. Minutenlang gingen wir nebeneinander her, lächelnd, es war etwas geschehen, ich spürte es in jenem Moment, die Tiefe der Zeit und die in ihr gemachten Erfahrungen trennten uns voneinander. Natürlich liebte ich die beiden, doch ich verstand, dass diese Liebe eine erinnerte Liebe war, sie war nicht in diesem Augenblick lebendig. Aber auch wenn sich diese Liebe, wie ich damals dachte, nur unserer Verwandtschaft, unserer Vergangenheit und den Sommern in Istrien verdankte, hatte sie doch etwas Echtes und Tröstendes.
    Ich hatte Tante Sof ij a und Onkel Milan immer nur am Meer gesehen, unter großen Pinien und Palmen, unter Maulbeerbäumen, an üppigen Abendtafeln meiner selbstlosen Großmutter. Wir küssten uns zum Abschied, ich umarmte sie fest. Auf dem Weg zurück nach Paris, als ich im Zug zu Hiromi fuhr, erfasste mich ein starkes Schuldgefühl. Ich bin also frei genug, dachte ich, meine Verwandten als Teil einer abgeschlossenen Vergangenheit zu sehen – mit welchem Recht? Konnte denn Liebe dieser Art überhaupt vorübergehen? Meine Mutter und mein Vater sind in der Stadt geblieben. Keller. Ängste. Granaten. Hunger. Feuer. Flammen. Überall Flammen. Fensterlose Häuser. Ich hingegen darf in Paris spazieren gehen, kann auf das Konto bei der Crédit Lyonnais zurückgreifen. Ich habe mein Leben. Ich habe ein Stipendium. Ich bekomme Geld, weil die Kommission offensichtlich jemanden retten wollte, aber ich wäre ohnehin nach Paris gekommen, um das zu tun, was ich tat: zu studieren, Bücher zu lesen. Kurz, ich habe überlebt. Während die zu Hause Gebliebenen hungern. Und leiden. Und um ihr Leben bangen. Sie zählen hauptsächlich Granaten und sind mit dem Auflisten von Toten beschäftigt. Ich esse Croissants. Sie schmecken gut. Ich kann sie nicht mit

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