Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Schlüssel zu meinem eigenen Kopf. Ich komme mir vor wie jemand, der jahrelang versucht hat, vom Keller aus den Himmel zu sehen und dabei etwas über das Tageslicht zu sagen. Aber darf ich jetzt, nach allem was in der belagerten Stadt geschehen ist, überhaupt an so etwas wie meine damaligen Absencen denken? Ich weiß, dass ich im Vögelchenzimmer eine Ahnung davon bekommen habe, auf welche Weise das Sehen alles ändert. Doch außer Scherben habe ich nichts. Ich will keine Aufrechnung, will nicht alles nur auf die Vergangenheit zurückführen, so wie es die Männer an der Bastille im Club der Visionäre taten. Ich habe das Gefühl, dass auf diese Weise die Vergangenheit erst recht auf sich pocht und jederzeit meine Gegenwart in Beschlag nehmen kann. Immerhin, die Risse in meiner Erinnerung kommen seltener. Jetzt verstehe ich, dass ich, genau wie jene Durchreisenden, die ich während des Krieges in Paris traf, nichts anderes habe als mich selbst: meine Wangen, meine Augen, meine Haut, meine Hände, meine Finger, meine Beine, meinen Mund, meine Ohren. Und doch ist das, was ich bin, nicht nur mein Körper, nicht nur meine bloße Existenz.
Als ich dabei war, mein neues Arbeitszimmer einzurichten, fiel mir etwas auf. Der Tisch stand links vom Fenster wie bei meinem Vater. Sogar die Himmelsrichtung stimmte mit der Anordnung überein, die mein Vater in seinem Arbeitszimmer hatte. Eine eigenartige Wärme erfüllte mich, als ich das bemerkte. Ich wehrte mich nicht mehr dagegen und spürte eine Mischung aus Furcht und Freude in mir aufkommen. Auch Vater hatte an den Wochenenden immer in seinem Arbeitszimmer gesessen und seine wissenschaftlichen Artikel geschrieben. Mutter klopfte an seine Tür, schob mich stolz zu ihm, schob mich über die Schwelle und zu seiner Anerkennung hin. Er nickte, schaute über seinen Brillenrand auf meine Kleider-Kombination des Tages und segnete sie ab, wortlos, manchmal mit leuchtenden Augen. Ich kam mir dabei immer entfremdet und verkleidet vor, fühlte mich wie bei einer nie enden wollenden Prüfung. Mutter klopfte mir lobend auf die Schultern, so als hätte ich Anteil an dieser großen Sache, die mein Aussehen war. Ohne Unterlass ging es um meine Schönheit, nie um meine Sehnsucht, nie darum, ob mir etwas wehtat. Ich vermisste meine Großmutter in Istrien und malte mir Tante Sof ij as und Onkel Milans Rückkehr aus. Wie gerne wäre ich mit den beiden nach Paris gefahren. Monatelang träumte ich immer in der Sonne vor unserem Haus, dass sie mich zu sich holen würden. Aber sie schrieben nicht einmal Briefe am Anfang. Mutter meinte, die Briefe würden bestimmt abgefangen werden. Es blieb mir nur die Hoffnung, dass sie eines Tages doch noch durchkamen. Bis heute bin ich erstaunt, dass ich selbst nicht auf die Idee kam, ihnen zu schreiben, wenigstens einen Versuch zu unternehmen, mit den beiden in Verbindung zu bleiben. Im Hals steckten die Wörter fest, ich übte nie, sagte nie mit lauter Stimme, was ich fühlte. So kam es zu einem bleiernen Wortstau in mir, und wenn ich später versucht habe, etwas von diesem Stau auszudrücken, hat mein Herz so laut geklopft, dass ich vergaß, was ich sagen wollte. Lächerlich laut klopfte mein Herz, ich schämte mich, es nicht unter Kontrolle zu haben. Ich kann nicht sagen, dass das, was meine Mutter ewig meine Schönheit nannte, mir dabei auf irgendeine Weise behilflich gewesen wäre, im Gegenteil – ich hasste es, dass ich auffiel, dass die Leute in unserer Straße meine Augen liebten, dass mein erster Lehrer vor der ganzen Klasse verkündete, mich adoptieren zu wollen, weil ich das schönste Kind weit und breit sei und meinen Mund mit dem von berühmten Schauspielerinnen verglich. Bevor ich eingeschult wurde, machten meine Eltern hin und wieder, vor allem an den Sonntagen, Fotos von mir. Sie archivierten Mutters, wie es hieß, geschmackvolle Kombinationen, um mir später, oder wie sie sich ausdrückten, »in meiner Zukunft«, an die sie allem Anschein nach jetzt schon immerfort dachten, zeigen zu können, was für ein schönes Kind ich war. Meine Haut juckte, aber ich hatte keine Zeit, um etwas zu sagen. Ich wünschte mir, unsichtbar zu sein, zu verschwinden, nicht gesehen zu werden. Meine Mutter hatte andere Pläne. Sie brachte mich zum Theater, Freunde vermittelten mich an einen bekannten Regisseur. Ich wurde nicht gefragt, schluckte meine eigenen Fragen hinunter. Sie vereinbarte alles, schließlich ging ich hin, damit sie, wie sie es formulierte, ihr
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