Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
und er sagte, ich will mich nicht streiten, aber wenn du mich brauchst, ruf mich einfach an, ja? Ich fahre ans Meer, ich habe an einem neuen Bild noch einiges zu tun. Melde dich oder komm mit, wenn du willst. Er küsste mich auf die Stirn und ging. Als die Tür zuschlug, wusste ich, dass er mir dieses Mal mit seiner Kälte geholfen hatte und ich nicht mehr zu ihm zurückkehren würde.
Hiromi und Nadeshda kamen mich im Krankenhaus besuchen. Meine Verwandten kamen mit Geschenken. Auch Mischa Weisband machte mir mit einem großen bunten Blumenstrauß seine Aufwartung. Als ich aus dem Krankenhaus kam, eröffnete Nadeshda mir, dass sie beschlossen hatte umzuziehen. Ich gehe nach Berlin, sagte sie, ich habe schon eine Wohnung gemietet. Und zwei Wochen später war sie fort. Insgeheim wartete ich doch noch auf Ariks Anruf. Aber er ließ nichts von sich hören. Ich ging mehrmals in die Wohnung an der Place Dauphine, nahm, was ich von meinen Sachen tragen konnte, mit. Hiromi half mir mit allem, sie richtete in Nadeshdas altem Zimmer alles für das Kind ein, nähte Kleider für mich und für den Jungen. Nadeshda meldete sich lange gar nicht aus Berlin und rief dann irgendwann mit Neuigkeiten an, sagte, komm doch auch nach Berlin, ich will nicht, dass du in Paris lebst, hörst du? Ich wusste nicht, was mit ihr los war, warum sie so fluchtartig abgereist war. Sie hatte in Berlin sogar eine Arbeit für mich gefunden. Nadeshda hatte zwar immer wieder darüber gesprochen, dass sie es nicht lange in Frankreich aushalten würde. Aber mir war das wie eine kleine, vorübergehende Lustlosigkeit vorgekommen. Und ich hätte nie gedacht, dass sie tatsächlich gehen und uns alle zurücklassen würde. Was aber hielt mich nun überhaupt noch hier? Hiromi plante bereits ihre Rückkehr nach Japan, in ein paar Monaten würde auch sie fort sein. Und was sollte ich in Berlin tun? Ein Theater am Kurfürstendamm sucht noch eine Mitarbeiterin für die Kostümbildnerin, sagte Nadeshda, du kannst, wenn du willst, schon in zwei Monaten anfangen. Ich wollte darüber nachdenken, wusste aber nicht, dass Nadeshda schon längst in meinem Namen zugesagt hatte. Als wir auflegten, dachte ich, dass sie verrückt geworden ist. Das Kind in meinen Armen kam mir immer fremder vor, so klein und weit von mir und meinem Leben entfernt. Was konnte ich für dieses Wesen tun? Wie würde ich es bloß nur lieben können, wie machten das andere Frauen? Ich wusste nicht, ob es wirklich stimmte, dass jede Mutter sofort das Neugeborene liebt, und wenn ja, war ich eine Ausnahme? Das Kind war zu früh gekommen und im Krankenhaus hatte man es mir fast zwei Wochen vorenthalten. Erst vor kurzem habe ich gelesen, dass Mütter, die ihr Kind nach der Geburt sofort in die Arme schließen, so gut wie nie einer Adoption zustimmen würden.
Unten auf der Straße überfällt mich die Erinnerung an die Augen des Kindes. Ich habe es weggegeben. Es hatte blaue Augen. Die Augen von Arik. Ich habe es weggeben müssen. Der kleine Hund ist tot. Wie gelähmt stehe ich vor dem toten Tier und Entsetzen erfüllt mich. Das letzte Mal habe ich geweint, als ich die Papiere für die Freigabe meines Kindes zur Adoption unterschrieben habe. Danach habe ich nie wieder geweint, auch nicht, als Mischa Weisband kam und mir half, den Jungen nach Bièvres in die rue Léon Mignotte zu seinen neuen Eltern zu bringen. Es war ein regnerischer Tag, der Regen und die Tränen, die ich hinunterschluckte, passten gut zusammen.
Alles in mir wehrt sich, an die Zugfahrt von damals zu denken, an das kleine atmende Bündel in meinem Arm und daran, dass wir länger als vorgesehen in Meudon Val-Fleury gewartet haben und später von Clamart aus noch ein Stück zu Fuß gegangen sind, bevor wir schließlich in den Bus nach Bièvres umstiegen. Ausgerechnet an jenem Tag gab es Streik, die meisten Vorortzüge fuhren nicht. Es hätte alles viel schneller gehen können, die Hinfahrt, die Übergabe, die Rückfahrt. Als wir in Paris einfuhren, regnete es. Mischa saß am Fenster, hielt wortlos meine Hand und sah nach draußen. Er hätte mein Vater sein können. Ein weißhaariger alter Mann, der freundlich lächelte. Hiromi kochte am Abend eine Suppe für mich. Wochenlang lag ich im Bett und dachte an Arik, an seine Kälte, die letzten Sätze, die er zu mir gesagt hatte. Er hatte das Kind nicht einmal angesehen. Er hat einfach nur irgendetwas geredet und ist dann gegangen. Unser Sohn ist im letzten Monat vierzehn Jahre alt geworden. Noch
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