Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
so etwas vorstellen können. Die Gedanken sind mit der sichtbaren Welt, davon ist Mischa überzeugt, durch eine lange Schnur verbunden. In Paris habe ich oft versucht, Genaueres von ihm darüber zu erfahren. Aber mehr wollte er mir dazu nicht offenbaren. Er sprach über Vorstellungskraft und betonte, dass alles, was Menschen sich ausdenken, wahr werden könne und dass der Gedanke selbst diese Tat sei, die später als Handlung in der Welt sichtbar werde. Wie genau das vor sich ginge, das konnte oder wollte er mir nicht sagen. Über seine Kindheit hat er nicht viel gesprochen. Über manches, sagte er, müsse man einfach schweigen. Damit meinte er das Land seiner Geburt. Einmal hat Mischa aber eine Ausnahme gemacht und mir von einer deutschen Biologin erzählt, die ihm mit ihrem Umzug in ein Altersheim eine Reise nach Berlin vereitelte. Ein paar Jahre nach dem Mauerfall hatte er sich entschieden, in die Stadt seiner Kindheit zu reisen. Den Koffer hatte er schon gepackt. Mischa erzählte mir darüber und ich schwieg und hörte ihm zu. In Paris redete er nie wieder über seine Vergangenheit.
fünfter tag
Eine zarte Person war sie nicht. Ihr Name war Karin Magnussen. Sie hätte auch Isländerin sein können. Aber sie kam in Bremen und nicht auf einer Vulkaninsel zur Welt. Sie liebte Schmetterlinge. 1908. Im gleichen Jahr annektierte Österreich-Ungarn Bosnien, ein Gesetz über Nummernschilder für Fahrräder trat in Frankreich in Kraft, der Mathematiker Hermann Minkowski hielt in Köln einen aufsehenerregenden Vortrag über Raum und Zeit. Die Raumzeit gewann an Konturen. Zwischen Paris und Casablanca wurde eine neue drahtlose telegrafische Verbindung genutzt, die Venus von Willendorf wurde ausgegraben und Karin Magnussen wuchs zu einer jungen wissensdurstigen Frau heran. Im Alter von vierundzwanzig Jahren schrieb sie schon an einer Dissertation. Untersuchungen zur Entwicklungsphysiologie des Schmetterlingsflügels . Das war der Titel. Aber bereits 1932 war es vorbei mit der Schmetterlingsverbundenheit. Sie begann die nationalsozialistische Rassenlehre zu propagieren. Die Verschiedenheit der Regenbogenhäute bei Augen-Heterochromie wurde ihr neues Forschungsgebiet. Das Phänomen kam bei Tieren öfter vor als bei Menschen. Die Störung der Pigmentierung, die zu zwei verschiedenen Augenfarben führte, konnte die Forscherin bald genauer beobachten. Ein Pioniergeist erwachte in ihr und die nötigen Problemaugen, die sie für ihre Untersuchungen brauchte, bestellte sie bei Josef Mengele. Er lieferte umgehend. Sie nahm dankbar an. Vierzig Augenpaare erhielt sie allein aus Auschwitz. Mengele ließ Menschen mit unterschiedlichen Augenfarben Tropfen verabreichen, die zum Anschwellen der Augen führten. Manchmal eiterten sie auch. Manchmal wurden die betroffenen Menschen blind. Das ging schnell, viel nachhelfen musste man da nicht mehr. Als die Sinti-Familie Mechan 1943 in das Vernichtungslager kam, erfüllte sich für Magnussen ein Traum. Die betroffenen Kinder mit unterschiedlichen Augenfarben wurden durch eine Herzinjektion getötet. Es ging schnell, sie sollen nicht gelitten haben. Biologen haben einen anderen Blick auf den Tod. So sagte es Mischa, als er mir die Geschichte dieser Frau erzählte. Magnussen überstand die Entnazifizierung und war noch in den Achtzigerjahren davon überzeugt, dass die Nürnberger Rassengesetze nicht weit genug gegangen waren. Sie unterrichtete nach dem Krieg als Studienrätin an einem Bremer Mädchengymnasium: – Biologie. Sie soll bei den Schülerinnen sehr beliebt gewesen sein, vor allem wegen ihrer ungewöhnlichen Unterrichtsmethoden. So ließ sie beispielsweise die Mädchen Untersuchungen an lebenden und toten Kaninchen aus ihrer eigenen Zucht vornehmen. Das war nicht einfallsreich, es war einfach nur naheliegend. Ihre 1944 fertiggestellte Forschungsarbeit erschien 1949 unter dem Titel Über die Beziehungen zwischen Irisfarbe, histologischer Pigmentverteilung und Pigmentierung des Bulbus beim menschlichen Auge . Die Versorgung mit Augenmaterial durch Mengele hat sie bis zu ihrem Tod 1997 immer bestritten. Als sie 1990 in ein Altenpflegeheim zog, musste ihr Haushalt schließlich aufgelöst werden. Man fand in ihren Räumen mehrere Gläser mit Augen aus Auschwitz. Laut einem Familienangehörigen wurden die Gläser »entsorgt«, aber dort setzte niemand das Wort in Anführungszeichen. Mischa las darüber in der Zeitung und packte seinen Koffer wieder aus. Noch heute, sagte er, frage ich mich
Weitere Kostenlose Bücher