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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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immer rechne ich nach. Ich weiß auf den Tag genau, wie alt er ist.
    In Berlin regnet es heute nicht wie am Tag der Bündelübergabe. Es ist ein sonniger Sommertag. Ein kleiner Hund ist heute in meiner Straße überfahren worden. Ein kleiner schwarzer Hund, den die Besitzerin, noch kurz bevor die Reifen quietschten, Viola oder Lola und dann mit einem Wort wie Stein gerufen hat. Ich weiß nicht mehr, wie der Name war, mit dem sie das Tier zu sich rief. Nur ihre Stimme, die schon von ihrer panischen Suche Kunde hatte, ist mir noch im Ohr. Eine Panik, die sich der Frau bereits bemächtigt hat, als sie noch nicht wissen kann, dass sie das Tier für immer verloren hat. An das Nichts. Oder an einen Gott, der nicht einmal einen Bauch hat, der niemanden in sich aufnehmen kann. Auch Viola oder Lola oder irgendetwas mit Stein nicht.
    Als ich das Tier auf der Straße verenden sah, fühlte ich mich wie an jenem regnerischen Tag in der rue Léon Mignotte, als hätte man mir meinen Namen zweigeteilt oder als hätte ich unten auf der Straße einen oder mehrere Buchstaben meines Namens verloren und den Rest nicht mehr sinnvoll zusammensetzen können. Weil die Buchstaben sich mir entzogen haben, weil sie bei dem toten kleinen schwarzen Hund waren. Ich höre die Stimme meiner Mutter, in meiner Erinnerung tönen ihre Worte nach. Ara, Ari, Arjeta, ach Liebes, wo bist du nur bloß wieder? Das sagt Mutter in meinem Gedächtnis, das in diesem Augenblick mein An-sie-Denken ist. Hatte sie jetzt in diesem Moment eine eigene, eine wirklich tönende menschliche Stimme? Oder war es meine eigene Stimme, die an ihre Stelle trat? Wo war ich nur immer, wenn sie mich in der Kindheit brauchte und so nach mir rief? Die Abfolge ihrer Kosewörter. Sie ist immer die gleiche. Ein Singsang, der mich manchmal beruhigt, manchmal unheimlich anweht, manchmal aus dem Nichtstun herausreißt und mich mir selbst entreißt.
    Sie rief mich so, seitdem ich klein war. Im Alter von drei Jahren dachte ich, dass mein Name mit Ara beginnt und mit Liebes endet, dass all diese Wörter ein Name sind, mein mir von der Natur zugeteilter Name, und ich all das bin, was die einzelnen Wörter sagen. Noch heute, wenn mich ein Fremder nach meinem Namen fragt, erklingt die Kosenamenreihe als Ganzes in meinem Bewusstsein und ich brauche eine Weile, bevor ich sie kappe, bevor ich sage, dass ich Arjeta heiße. Ich zittere, als ich wieder im fünften Stock und in meiner Wohnung ankomme. Ich war unten auf der Straße dem Zittern wie einer Krankheit ausgesetzt. Der Hund war tot, niemand konnte ihn mehr zum Leben erwecken, und wie von einem fernen Licht erhellt, sah ich meinen eigenen Körper vor mir, genauer, schärfer als je zuvor. Damals in der Kindheit und Jugend hatte ich in meiner Vorstellung immer das Fortgehen geübt, besonders wenn meine Mutter mir die Kleider aufs Bett legte und es mir untersagt war, etwas anderes als das anzuziehen, was sie für mich ausgesucht hatte. Und wenn ich nur den Versuch unternahm zu protestieren, vergaß ich die Endungen der Verben und manchmal die Verben selbst. Gehen, denken, leben und verblühen wurden zu Leerstellen in meinem Kopf. Ich konnte mich an nichts mehr im Dazwischen erinnern. Die Lücken, kleine und große, gingen mit mir, redeten mit mir, ich wusste um sie, aber ich war nicht in der Lage, sie zu fühlen. Auch dann nicht, wenn Mutter mich packte und schüttelte. Zum sofortigen Reden aufforderte. Lange Zeit habe ich geglaubt, dass ich kein Recht mehr habe, über meine Kindheit nachzudenken. Zu viel ist in der Zwischenzeit geschehen, und jedes Mal, wenn ich mich über meine Mutter zu ärgern beginne, denke ich daran, dass sie weiß, wie es sich anfühlt, über menschliche Gehirne zu gehen. Mein Unmut verschwindet. Der Kummer bleibt. Zwanzig Jahre später drängt alles selbsttätig wieder an die Oberfläche und ich muss lernen, mich meinen eigenen Lücken zu stellen, sie zu sehen, das Schaltwerk der Bilder und Gedanken zu finden, die in ihnen vergraben liegen. Meine eigene Kälte gehört dazu. Warum konnte ich mein eigenes Kind weggeben? Nadeshda sagt, es liegt an den Lücken, daran, dass ich nicht gelernt habe, mich ihrer Sprache und dem Gefängnis in meinem Kopf zu stellen. Bomba fällt mir ein, seine gierigen Augen. Nadeshda geht sogar noch weiter und sagt, nicht Arik habe mich ausgesucht, es sei umgekehrt gewesen.
    Manchmal ahne ich, wie sehr sie recht hat. Ich gehe durch das, was ich mein Leben nenne, und habe nicht einmal einen

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