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Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)

Titel: Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožić
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Verwaltungsgericht erhoben hatte – auf Rückerstattung des durch Enteignung und Zwangsverkauf verlorenen Familieneigentums.
    Mein Großvater war, so drückte er es aus, seinem Land immer verbunden, und doch fühlte er sich von ihm und der wechselhaften Geschichte seiner Grenzen richtiggehend verflucht. Alles in allem hielt er sich an seinen Mentor, den zukünftigen Nobelpreisträger, der ebenfalls weder ohne noch mit seinem Land glücklich werden konnte. Die Diplomatie wurde sein Lebensprinzip. Mitten im Zusammenbruch Jugoslawiens starb er, für uns alle überraschend, in Havanna. Meine Großmutter wollte am Schluss nicht mehr auf seine diplomatischen Reisen mitgehen, sie verbrachte viel Zeit allein in Istrien. Das Angebot, seinen Leichnam nach Istrien überführen zu lassen, lehnte sie aus für uns alle unerfindlichen Gründen ab. Eine Erklärung blieb sie uns schuldig. Schließlich war es meine Mutter, die sich irgendwann doch darum kümmern wollte und der es wichtig war, dass er in unserer Stadt begraben wurde. Als herauskam, dass mein Großvater in Havanna eine andere Frau und mit ihr vier Kinder hatte, drei Söhne und eine Tochter, ließ auch sie von ihren Bemühungen ab. Von da an wurde in meiner Familie nur noch in geheimnisvollen Andeutungen über ihn gesprochen. Das war deshalb leicht, weil Krieg war und alle genug andere Sorgen hatten. Der Krieg, hat später meine Mutter gesagt, habe sie alle gezwungen, im Hier und Jetzt zu leben, da sei keine Zeit für sentimentale Gefühle gewesen. Und das Hier und Jetzt war für sie, so sagte sie, eine einzige Sekunde, in der man sein Leben verlieren oder retten konnte. Bis heute benutzt sie dieses Argument, um nicht über sich selbst reden zu müssen. Der Augenblick ist ihr großes metaphysisches Schwert, das sie immer hervorholt, wenn in mir Fragen aufkommen und ich wissen will, wie es war, damals, als sie ohne meine Brüder und kurz darauf auch ohne meinen Vater allein in unserem Haus leben musste. Statt mir eine Antwort zu geben, brachte sie bei einem ihrer Besuche wieder eine Plastiktüte voller Fotos mit. Da kommt sie, ging mir am Flughafen durch den Kopf, mit unserem Leben in einer Tüte, steht vor mir und lacht.
    Großmutter hatte in Istrien nicht die gleichen Probleme wie die Menschen in der belagerten Stadt, sie konnte sich den Luxus eigener Empfindungen leisten. Wenn später die Rede auf Großvater kam, schwieg sie sich beharrlich aus. Aber das hatte sie im Grunde auch schon vor dem Krieg getan, und wenn ich fragte, warum sie nicht mehr zu ihm wolle, sagte sie, dass ihr alter Kirschbaum sie brauche. Der Kirschbaum steht nicht mehr. Mateo, ihr Gärtner, hat ihn nach dem Krieg einfach gefällt, ohne sie um Erlaubnis zu bitten. Sein Verein hatte keine Heizung. Keiner hat sich über seinen Eigensinn, der früher Diebstahl geheißen hätte, in diesem Verein gewundert. Mit dem neuen Land kamen neue Regeln. Meine Mutter sagt, die hätten jetzt alle andere Sachen zu tun als sich um fremdes Eigentum zu kümmern.
    Meine Mutter war in ihrer Kindheit und Jugend an Orte gekommen, die sie ohne meinen Großvater im kommunistischen System nie kennengelernt hätte. Andere Sprachen lernte sie auf Großvaters Diplomatenstationen. Wir wussten alle um die aus der Diplomatie entstandenen Privilegien, hatten aber nie das Schicksal von Onkel Milan vergessen. Wir fanden einen Platz in alledem, ohne wegzuschauen, aber wir wollten auch ganz normal leben. Meine Großmutter war die einzige, die es tatsächlich schaffte, sich aus der Politik herauszuhalten. Da wir eine gemischte Familie waren und keine Religion zu verteidigen hatten, gefiel uns unser Leben zwischen dem Festland und der Küste. Unser Familienstammbaum war weitverzweigt, schon wegen unserer deutschen Großmutter kam uns das normal vor, ganz zu schweigen von Vaters Verwandtschaft aus der Bukowina. Später, als unsere Stadt belagert wurde, wunderten sich alle, dass wir je miteinander in Frieden hatten leben können. Und auch uns, als wir von den Lagern erfuhren, die sich in unmittelbarer Nähe unserer Stadt befanden, kam das alte Leben wie ein Wunder mit Verfallsdatum vor. Wir hätten uns vorher nie vorstellen können, dass ein Mensch, der mitten unter uns, in unserer Stadt gelebt hatte, genau diese Stadt, die auch einst seine Stadt war, von den umliegenden Bergen beschießen könnte.
    Ich denke an Mischa Weisband, daran, dass er sich als Kind verstecken und unter einem anderen Namen leben musste. Niemand hatte sich vorher

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