Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
aßen eine Kleinigkeit zu Mittag. Ich fragte nach Gustave. Er ist in Norwegen geblieben, sagte Arik, ich habe ihn verloren. Ungläubig sah ich ihn an. Du hast Gustave verloren? Ja, sagte Arik, aber so dramatisch ist das nicht, Tiere sind schlau, sie suchen sich ihre Herren selbst aus und nicht umgekehrt, das ist nur das, was wir alle denken.
Ich konnte es nicht begreifen, dass er Gustave nach zwei Jahren einfach so aufgegeben und offenbar nicht einmal nach ihm gesucht hatte. Als ich wortlos aufstehen wollte, zog er mich zärtlich an sich, komm, sagte er, was ist denn mit dir, komm doch wieder nach Hause. Ich weiß nicht, wo mein zu Hause ist, sagte ich, bei dir ist es wahrscheinlich nicht. Dummkopf, sagte er, wie kannst du so etwas Dummes sagen. Ich schloss die Augen und wusste nicht, ob ich bleiben oder gehen sollte. Bei mir, sagte er, du bist bei mir zu Hause. Ich wusste, dass das nicht stimmte, auch wenn es schön klang und in jenem Moment auch ehrlich. Aber immer wenn Arik so etwas sagte, klang es schön und ehrlich und das war das sichere Zeichen, dass er bald wieder fliehen würde. Er hielt es nicht lange an einem Ort aus. Mit der Zeit hatte ich die mathematische Präzision seiner Fluchtbewegungen begriffen, hatte verstanden, dass auf die zärtlichen Momente immer ein Ausbruch folgte. Dann fuhr er entweder zu seinem Onkel Clément oder reiste unangekündigt ins Ausland. Es waren Fluchten eines Eingesperrten, die er brauchte, ohne die er nicht hätte weiteratmen können. Er war wie ein gejagtes Tier, getrieben von einer sonderbaren Kraft, die ihn blind für seine Umgebung machte. Einmal zog er sich mitten in der Nacht eilig an, kurz nachdem wir uns geliebt hatten, ging weg, ohne ein Wort zu sagen. Was sollte ich tun? Ihn verlassen, von ihm fortgehen, Reißaus nehmen? Das wollte ich. Aber wohin dann? Wohin hätte ich gehen können? Wohin geht ein Mensch, wenn er nichts mehr zu verlieren hat? Wieder in ein neues Land? Der Gedanke war verlockend. Aber ich wollte bleiben und Arik verstehen. Als Nadeshda von ihrer Recherchereise zurückkam, merkte ich, dass ich mich aus der Verlorenheit, die von Arik und unserem Leben ausging, nicht mehr retten konnte. Ich erzählte ihr zu meiner eigenen Überraschung an diesem Nachmittag alles über Arik und mich. Ihre Miene verdunkelte sich und sie fing an zu weinen. Sie umarmte mich zitternd, fühlte sich warm an, wie eine meiner Katzen aus den Kindheitssommern bei meiner Großmutter. Nadeshda bat mich unter Tränen, mit ihr nach Berlin zu gehen. Aber Nadeshda, ich bin schwanger, ich kann doch jetzt nicht fortgehen. Vielleicht ändert das Kind etwas, sagte ich, und glaubte meiner eigenen Stimme nicht. Ich hatte Angst, wollte es behalten, und doch spürte ich in mir eine Gleichgültigkeit dem Kind gegenüber, die mir Sorgen machte. Nadeshda sah mich eindringlich an. Denkst du, dass du ihn so ändern kannst, fragte sie. Ich schwieg. Sie hatte etwas in mir getroffen, das ich mir selbst noch nicht eingestanden hatte. Du wirst Arik nie ändern können, sagte Nadeshda, niemand kann das tun, ich weiß, wovon ich rede. Schon gar nicht die Liebe wird das können, erst recht die Liebe nicht, und schon gar nicht euer Kind, gerade das Kind nicht! – das einzige, was dieser Mann kann, ist, sich jedem zu entziehen, der ihm zu nahe kommt. Du, Arjeta Filipo, du bist ihm zu nah. Und du bist nicht stark genug, so etwas zu überstehen. Ich wusste nicht, warum Nadeshda mir all das sagen konnte. Aber es fühlte sich richtig an. Ich hörte an jedem ihrer Worte, dass es stimmte und wusste, dass Arik immer so bleiben würde, ein Mann auf der Flucht vor sich selbst. Er suchte nur nach Nähe, um sich wieder abstoßen und fortgehen zu können, in eine noch weitere Ferne. Ich glaube, ich stellte mir damals vor, dass unser Kind tatsächlich etwas an ihm und für ihn ändern würde, dass ein Kind das nicht automatisch macht, musste ich später am eigenen Leib lernen.
Ich war im vierten Monat schwanger. Nadeshda ließ mich nicht mehr aus den Augen. Wir trafen uns jeden Tag. In dieser Zeit träumte ich zum ersten Mal den Marienkäfertraum. Und als ich dann das Kind zur Welt brachte, kam Arik nur kurz im Krankenhaus vorbei. Ein Junge also, sagte er, ist es geworden. Ich hätte lieber ein Mädchen gehabt, fügte er leise hinzu. Ich schwieg und sah ihn nicht an. Es ist aber ein Junge geworden, sagte ich. Dein Junge, sagte Arik, du wolltest unbedingt einen Jungen haben. Du wolltest unbedingt ein Kind, sagte ich,
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