Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Gesicht wahren konnte. Fortan war ich von morgens bis abends verplant. Und dann ging es, ganz und gar anders als in den Sommern in Istrien, immer mit dem Blick auf die Uhr irgendwohin. Alles wurde mit der Kamera dokumentiert.
Meine Mutter hatte sich von einem Verwandten aus Amerika sogar einen besonderen Fotoapparat schicken lassen, eine alte Brownie, die auf der Küchenkredenz stand und immer mit dem Auge nach vorne ins Innere des Raumes zeigte. Selbst wenn nicht fotografiert wurde, fühlte ich mich von diesem großen Kameraauge verfolgt, das in meiner Vorstellung wie eine Waffe auf mich gerichtet war. Die Fotos landeten in großen Familienalben, die wir uns hin und wieder ansahen. Ich verschwand in den Kleidern und Blusen, Röcken und Tüchern, die meine Mutter für mich ausgesucht hatte und musste mich auf den Fotos regelrecht suchen.
Jetzt sehe ich mir auch diese Bilder an, die sich irgendwie über die Jahre gerettet haben und in der Plastiktüte meiner Mutter gelandet sind. Es wundert mich, dass meine Mutter sie mir gebracht hat, und mir kommt der Gedanke, sie bestehe auf diese Weise darauf, dass ich sie mir anschaue, noch genauer, noch länger, und dass ich endlich selbst sehe, wie schön ich war, wie sehr sie recht hatte, und wie gut sie sich um meine Kleider gekümmert hatte. Denn daran hält sie bis heute fest – es ging ihr nur um meine Schönheit. Es gibt Wahrheiten, die Lügen sind, und dennoch weiß ich, dass sie versucht hat, aufrichtig zu sein. Meine Mutter hat ihre eigenen Lücken.
Ich besitze bis heute keine Kamera. Fotos, die von mir oder den anderen in Paris gemacht wurden, verschwanden in Kisten und Kästchen. Ich habe ein ganzes Schachtelsystem entwickelt, in dem ich sie ablegte. Irgendwann vermischte sich alles mit den istrischen Fotos. Die Bilder aus der Stadt scheinen einem ganz anderen Leben zu entstammen. Langsam lerne ich, dass gerade sie zu mir gehören. Wie gerne ich mich davongestohlen hätte, wenn Mutter mich vorführte, wird mir nun hier vollständig klar, in einer Stadt, in der ich keine eigenen Toten habe. In Berlin habe ich nur Lebende, nur neue Freunde. Menschen, die meine Vergangenheit nicht kennen, die mir alles glauben, die nicht wissen, wie meine Grundschule hieß, wer mein erster Freund war, wie meine Brüder aussahen. Sie wissen nicht, wie wir gelebt haben und wie weiß unser Weißbrot wirklich war (sehr weiß), wie beruhigend es sein konnte, über den langen Flur unseres Hauses oberhalb der Synagoge zu schleichen, wenn meine Eltern an den Sonntagen noch schliefen und wenn die heilige Siesta gehalten wurde und der Duft von Mutters Apfelkuchen durchs Haus zog und wir Kinder die Hölle in Kauf genommen hätten, wenn man uns nur erlaubt hätte, den noch warmen Kuchen zu essen.
Niemand konnte so gut deutschen Käsekuchen backen wie meine Mutter, niemand wusste damals, was überhaupt Quark war, aber sie wusste sogar, wie einfach er aus Joghurt herzustellen ist. Als junge Frau hatte meine Mutter zuerst in Paris und dann in München Sprachen studiert. Ihre bayerische Vermieterin brachte ihr das Kuchenbacken bei und selbst meine deutsche Großmutter, die nie auf den Gedanken gekommen war, einen Käsekuchen zu backen, war beeindruckt. Mein Großvater, der sehr schöne Hände hatte, war Diplomat des alten Königreichs Jugoslawien und ging zusammen mit dem späteren Nobelpreisträger Ivo Andri ć im Oktober 1940 nach Berlin. Nur ein halbes Jahr später griff die deutsche Wehrmacht Jugoslawien ohne Kriegserklärung an – als erstes bombardierte sie Belgrad. Da kurz darauf der jugoslawische Staat zerschlagen wurde, bestand plötzlich kein Bedarf mehr an einer diplomatischen Vertretung, und mein Großvater kehrte nach Hause zurück. Unter Tito wurde er dann doch noch einmal Diplomat. Wieder ging er nach Deutschland, wo er meine Großmutter kennenlernte, gemeinsam reisten sie weiter nach Paris. Großmutter war in Berlin-Schöneberg zur Welt gekommen und wohnte in der Nähe des Winterfeldtplatzes. Das Büro meines Großvaters lag im gleichen Gebäude der jugoslawischen Gesandtschaft wie vor dem Krieg. Die neue Volksrepublik Jugoslawien nutzte das Haus noch einige Jahre, dann zog dort die Militärmission ein. Das Gebäude befindet sich im Tiergarten, ich habe es nach meiner Ankunft gesucht. Hier in Berlin erfuhr ich, dass der letzte jüdische, einst von den Nazis enteignete Besitzer, der Chemiker und Industrielle Paul Bartholdy-Mendelssohn, nach dem Krieg Klage vor dem Obersten
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