Kismet Knight – Vampire lieben länger / Roman
mir nicht?
»… und da war er, klopfte an mein Fenster, total schamlos.«
Ich blickte wiederholt zur Uhr. »Was ist dann geschehen?«
Shirley rutschte auf der Sesselkante hin und her, aufgeregt mit einer manischen Note in ihrer Aura. Sie sparte sich den haarsträubendsten Teil ihrer Geschichten immer für die letzten zehn Minuten unserer Sitzungen auf. Nun lehnte sie sich vor und senkte ihre Stimme. »Ich habe das Fenster aufgemacht. Er hat gelächelt wie der Leibhaftige und kam in mein Zimmer geklettert. Ehe ich auch nur denken konnte, knöpfte ich schon mein Nachthemd auf. Der lüsterne Dämon muss über meinen Geist befohlen haben, denn sonst hätte ich mich niemals so beschämt. Ich stand unter satanischer Kontrolle.« Sie warf sich in die Polster zurück und schlang die Arme um ihren Oberkörper, während sie deutlich erschauerte.
»Wie haben Sie sich beschämt, Shirley?«, fragte ich mit meiner sanftesten Therapeutenstimme.
Ihr Kinn bebte, als sie vergeblich versuchte, der Erinnerung zu widerstehen. »Ich habe ihn mit mir machen lassen, was er wollte«, flüsterte sie und schluchzte heftig. Sie wischte sich mit dem Handrücken die laufende Nase und verschmierte ihren Rotz auf der Wange. Dann schob sie ihr Kinn vor und wurde wieder lauter, wobei sie sich vor- und zurückwiegte. »Ich habe nicht einmal versucht, ihn aufzuhalten, habe mich gar nicht gewehrt. Es war alles meine Schuld. Das hat er mir gesagt. Ich bin ein böses Mädchen. Ein sehr, sehr böses Mädchen, das bestraft werden muss.« Tränen strömten über ihr Gesicht.
Ich erkannte den glasigen Blick, der typisch für eine selbstgesteuerte Regression war, rückte meinen Stuhl näher zu ihr und zupfte mehrere Papiertücher aus der Schachtel, bevor ich ihr behutsam den Arm tätschelte.
»Es ist alles okay, Shirley. Sie sind ein wunderbares Mädchen, und Sie haben nichts falsch gemacht. Lassen Sie mich Ihnen die Tränen abwischen.« Bei dieser Gelegenheit putzte ich ihr auch gleich die Nase und das Gesicht. Dann schob ich ihr die restlichen Papiertücher in die Hand. »Jetzt sind Sie sicher, Shirley. Niemand kann Ihnen weh tun. Niemand kann Sie zwingen, etwas zu tun, das Sie nicht wollen.«
Sie blickte mich mit leeren Augen an. »Er ist ein Monster, wirklich! Ein blutsaugender Dämon, der nur darauf wartet, dass er sich in mein Zimmer schleichen kann. Ich kann nicht schlafen, weil ich weiß, dass er wiederkommt. Er kommt immer.«
Ich nickte. »Er kann nicht mehr kommen. Er ist tot, Shirley. Ihr Vater ist seit langem tot. Er kann Ihnen nie wieder weh tun. Glauben Sie mir das?«
Sie bejahte stumm und schabte mit ihren Zähnen über ihre Unterlippe. »Was ist mit den Aliens? Entführen die mich noch mal?«
»Nein, auch die Aliens kommen nicht wieder. Aber Sie müssen mir versprechen, jeden Tag Ihr Medikament zu nehmen. Es hilft Ihnen, die Monster und Aliens fernzuhalten. Versprechen Sie mir, dass Sie die Tabletten nehmen?«
Ein unschuldiger Ausdruck huschte über ihr fünfundsechzig Jahre altes Gesicht, und sie lächelte auf eine kindlich niedliche Art. »Ich verspreche es, Dr. Knight. Sie passen so gut auf mich auf.«
Ich sah ihr voller Mitgefühl in die Augen. »Es ist mir ein Vergnügen. Ich hätte gern Ihre Erlaubnis, später Ihre Tochter anzurufen und mit ihr über Ihre Medikation zu reden. Sind Sie damit einverstanden?«
Shirley neigte ihren Kopf zur Seite und überlegte eine Weile, ehe sie wieder lächelte. »Ja, in Ordnung. Meine Tochter ist so ein gutes Kind. Ihr werden doch nie Vampire oder Aliens etwas tun, nicht wahr, Dr. Knight?«
»Nein, sie ist vor ihnen sicher.«
Sie glitt mit der Zungenspitze über ihre spröden Lippen, worauf mein Blick zum Wasserspender wanderte. »Möchten Sie noch ein Glas Wasser, ehe Sie gehen?«
Shirley stand auf und streckte ihre Hände, die sie so fest geballt hatte, dass die Adern hervorgetreten waren. »Nein danke. Bis nächste Woche dann!«, verabschiedete sie sich lächelnd und ging.
Ich begab mich an meinen Schreibtisch, machte mir Notizen zu der Sitzung in Shirleys Akte und dachte über ihre Halluzinationen und ihre schreckliche Kindheit nach. Wie so oft hatte ihre Psyche das schmerzliche Trauma kompensiert, indem sie metaphorische Phantasien von abnormalen Männern schuf, die in ihr Leben eindrangen und ihren Körper angriffen. Wesen, die sie überwältigten und zum Opfer machten.
Vampire waren nichts gegen sadistische Schweine wie Shirleys Vater.
Das Café war sehr gut besucht.
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