Kiss and kill: Thriller (German Edition)
brauchte eine Pause von der Arbeit. Sie sollte duschen gehen, sich anziehen, ins Einkaufszentrum fahren, einen Schaufensterbummel machen und sich mit irgendjemandem zum Essen verabreden.
Mit wem? Hatte sie denn noch Freunde? Seit Jahren hatte sie nur noch mit Kollegen zu tun und keine Freundschaften gepflegt. Seit Gregs Tod.
Nic füllte frisches Wasser in die Kanne, goss es in die Kaffeemaschine, legte einen neuen Filter mit gemahlenem Kaffee ein und stellte die Maschine an. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, hockte sich wieder auf den Fußboden und nahm das Foto von Amber Kirby auf, wie man sie gefunden hatte.
Vor wenigen Tagen erst hatte sie mit Mrs. Landers gesprochen und sich nach deren Enkelin Maddie erkundigt, der Sechsjährigen, die Ambers Leiche entdeckt hatte.
»Sie spricht nach wie vor kaum und hat fürchterliche Alpträume«, hatte Mrs. Landers ihr erzählt. »Aber die Kinderpsychologin, zu der wir mit ihr gehen, hat uns schon gesagt, dass das nun mal dauert, bis sie wieder auf dem Damm ist.«
Nic konnte sich vorstellen, dass es eine traumatische Erfahrung für das Kind gewesen sein musste. Mit sechs Jahren eine Frau zu sehen, die mit gefesselten Knöcheln kopfüber im Obstgarten der Großeltern hing, tot und voller Blut, die Hälfte des Gesichts verschwunden und skalpiert – bei Gott, selbst ein Erwachsener würde sich davon nicht ohne weiteres wieder erholen.
Und Maddie war ein Kind.
Mord zog stets schreckliche Folgen nach sich. Wie überhaupt kein Ereignis im Leben folgenlos blieb. Jedes Wort, jede Tat, sogar jeder Gedanke hatte seine Konsequenzen. Zum abertausendsten Mal fragte Nic sich, ob etwas, das sie gesagt oder getan hatte, zu Gregs Selbstmord beigetragen haben könnte. Hatte sie an dem Morgen das Falsche gesagt? Waren ihre Überstunden, ihre Arbeitswut entscheidende Faktoren gewesen? Hatte sie ihn nicht genug geliebt?
Zu Beginn ihrer Ehe war sie sehr verliebt in ihn gewesen. Sie hatte sich eine rosige, erfolgreiche gemeinsame Zukunft mit ihm ausgemalt. Beide waren sie jung gewesen, aufstrebend, karrierebewusst. Greg war der Typ Mann gewesen, den sie sich gewünscht hatte: sensibel, freundlich, hilfsbereit und zugleich klug und ehrgeizig. Im ersten Jahr war alles so vollkommen gewesen. Beinahe zu vollkommen. Sie waren sich selten uneins, stritten nie.
Wann fing es an, dass alles anders wurde?
Sie konnte den Zeitpunkt nicht benennen. Da war kein einzelner Tag, den sie als jenen erinnerte, an dem ihre Ehe in die Brüche zu gehen begann. Zuerst hatte sie so getan, als wäre nichts, hatte die kleinen Anzeichen ignoriert und sich eingeredet, sie wären bloß beide überarbeitet. Als sie sich schließlich selbst eingestand, dass es in ihrer Ehe kriselte, dass sie Hilfe bräuchten, war es zu spät.
Ach, Greg, es tut mir leid. Es tut mir entsetzlich leid. Hätte ich doch nur …
Nein, das durfte sie sich nicht antun. Nicht schon wieder, und erst recht nicht jetzt. Sie konnte nichts mehr für Greg tun. Doch ihr blieben noch sieben Tage, um Dru Tanner zu retten.
Nach Luft japsend, beugte Dru den schmerzenden Brustkorb vor und gönnte sich eine kurze Verschnaufpause. Aber nur einen kurzen Moment. Sie wagte keine Sekunde länger stehen zu bleiben als unbedingt nötig. Wenn er sie in weniger als vier Stunden fing, würde er sie bestrafen. O Gott, sie könnte das nicht ertragen. Nicht noch einmal.
Wie lange sie hier war, die Gefangene eines Irren, wusste sie nicht. Wahrscheinlich ein paar Wochen, obwohl es ihr wie Jahre vorkam. Schier endlose Tage verbrachte sie allein im Wald, laufend, sich versteckend, weiter laufend. Und die Nächte waren kaum besser, außer dass sie sich für wenige Stunden ausruhen, sogar ein bisschen schlafen konnte. Er erlaubte ihr nicht, eine ganze Nacht zu schlafen, sondern stellte einen Wecker, der nach vier Stunden schrillte.
Jeden Morgen bei Sonnenaufgang holte er sie aus dem Keller, gab ihr Essen und Wasser. Jeden Tag ein bisschen weniger. Dann brachte er sie in den Wald und ließ sie frei.
»Ich komme später wieder«, hatte er ihr die ersten paar Morgen gesagt. »Lass dich nicht zu früh von mir fangen. Wenn du nicht so mitspielst, dass wir unseren Spaß haben, muss ich dich bestrafen.«
Am ersten Tag hatte sie wirklich geglaubt, sie könnte ihm entkommen. Selbst mit den Handschellen konnte sie rennen. Und das hatte sie getan: Sie war gerannt wie verrückt, in jede Richtung, panisch auf der Suche nach einem Fluchtweg. Aber überall war nur noch mehr Wald,
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