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Kite

Kite

Titel: Kite
Autoren: Blake Crouch
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auf großzügige Verabreichung schmerzstillender Medikamente hatte meine Ängste gemildert. Bei meinen Internetrecherchen war ich auf zahlreiche Blog-Einträge von Frauen gestoßen, die die Vorzüge einer natürlichen Geburt anpriesen – weil man sich dabei mit jeder Wehe und den damit verbundenen Schmerzen des eigenen Körpers bewusst wurde.
    Diese Frauen waren völlig bekloppt.
    Meine Devise lautete seit Monaten: Steckt mir eine Nadel in den Rücken und weckt mich erst wieder auf, wenn die Schmerzen vorbei sind.
    Aber das konnte ich mir jetzt abschminken.
    Keine schmerzstillenden Medikamente, keine Regionalanästhesie.
    Kein Arzt.
    Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen: Nach allem, was ich über frühzeitige Geburteneinleitung gelesen hatte, verstärkte Pitocin den Schmerz und die Intensität der Wehen – als ob es nicht schon schlimm genug war.
    Als die nächste Kontraktion vorüberging, hörte ich einen Augenblick zu schreien auf und sagte: »Lassen Sie mich in Ruhe.«
    Luther stand neben mir und drückte mir einen kalten Waschlappen auf die Stirn.
    »Sie machen es ausgezeichnet, Jack. Aber Sie sollten jetzt noch nicht drücken, sonst ziehen Sie das Ganze nur in die Länge.«
    »Verschwinden Sie, verdammt noch mal.«
    »Wenn ich das tue, werden Sie sterben, Jack. Sie und Ihr kleines Mädchen, hier in diesem Zimmer.«
    »Ich brauche Wasser.«
    Er gab mir ein paar Schlucke mehr.
    »Oh Gott, nicht schon wieder.«
    Er streckte den Arm aus und bot mir seine Hand.
    »Warum sind Sie auf einmal so nett zu mir?«, fragte ich.
    »Ich habe meine Gründe.«
    Ich weigerte mich, seine Hand zu nehmen, und ballte stattdessen die Faust.
    Dann schrie ich und fixierte mit meinen Augen die Glühbirne, die langsam über meinem Kopf hin und her baumelte.

    Vielleicht waren dreißig Minuten vergangen.
    Oder fünf Stunden.
    Oder auch ein ganzer Tag.
    Die Zeit hatte für mich jede Bedeutung verloren.
    Zwischen zwei Muskelkontraktionen hob ich den Kopf und sah, dass Luther zwischen meinen Beinen stand und meine Hose mit einem Messer aufschnitt.
    »Ist es schon so weit?«, keuchte ich. Eigentlich wollte ich ihn nicht in meiner Nähe, hatte aber das furchtbare Gefühl, dass ich ihn brauchte.
    Ich spürte seine Finger in mir.
    »Ihre Fruchtblase ist geplatzt«, sagte er und hielt die Hände hoch. Fruchtwasser glänzte auf den Latexhandschuhen.
    »Ist es so weit?«, wiederholte ich.
    Er ging in die Hocke. Dieser Dreckskerl starrte mir zwischen die Beine, aber mir war das egal.
    Ich wollte nur mein Baby aus meinem Körper haben. Dieses Bedürfnis war so stark, dass es alles andere in den Schatten stellte.
    »Sie haben es fast geschafft«, sagte er. »Bei der nächsten Wehe?«
    »Ja?«
    »Drücken Sie, so fest Sie können.«

    Es kam.
    Ich schrie.
    Ich drückte und drückte und drückte und drückte.
    Nichts geschah.

    »Sie müssen noch einmal fest drücken.«
    Ich drückte die Augen zu und stellte mir vor, dass Phin bei mir war. Dass ich seine Hand hielt, anstatt meine zu einer Faust zu ballen.
    Ich drückte mit aller Kraft.
    »Einmal noch, Jack! Ich kann den Kopf sehen!«

    Ichdrückteunddrückteunddrückteunddrückteunddrückteunddrückteunddrückteunddrückteunddrückteunddrückteunddrückteunddrückteunddrückteunddrückte …

    »Kommen Sie, Jack, geben Sie jetzt bloß nicht auf. Sie haben es fast geschafft!«
    Fast geschafft.
    Fast geschafft.
    Wie oft hatte er das schon gesagt?
    Tat er womöglich etwas, das das Baby daran hinderte, herauszukommen?

    Ich sog jedes verfügbare Luftmolekül in meine Lunge und drückte, als ob mein Leben davon abhing – was ja auch der Fall war. Noch eine Wehe würde ich nicht aushalten. Ich war an der Grenze meiner Leidensfähigkeit angelangt. Wenn das hier vorbei war, würde ich einfach nur daliegen und sterben.
    Und dann war es so weit – der Feuerring.
    Ein zutreffender Ausdruck.
    Zehn Sekunden furchtbarste Schmerzen, bei denen ich dasGefühl hatte, die Welt ginge unter. Plötzlich hörte ich Luther rufen: »Ich kann den Kopf sehen!« Und dann war es vorbei.
    Ein Baby schrie.
    Ich hob den Kopf und starrte Luther an. In seinen Armen wand sich ein lilafarbenes Etwas, das von Kopf bis Fuß mit weißem Schleim bedeckt war.
    Es sah scheußlich aus …
    … und gleichzeitig wunderbar.
    Mein Baby.
    Meins.
    »Geben Sie sie mir«, keuchte ich.
    Er löste die Fesseln um meine Handgelenke und sagte: »Machen Sie Ihre Jacke auf.«
    Mit zitternden Fingern fand ich den Reißverschluss und zog ihn
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