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Klack: Roman (German Edition)

Klack: Roman (German Edition)

Titel: Klack: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Modick
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knipste zusätzlich das Deckenlicht an, von wegen unterbelichtet, und griff zur Kamera.
    Klack!

8
Weihnachten 1961
    Es gibt keine reinen Fakten der Erinnerung. Sie bleibt immer eine Konstruktion, ein Mosaik aus Beobachtungen, Reflexionen, Sprache, Bildern, Klängen, Reizen und Gefühlen, eine sich ständig verändernde, instabile Collage, die sich modifiziert, indem sich neue Teilchen an sie ansetzen, während alte abgestoßen werden ins Vergessen. Da Sprache für sich selbst nicht bürgen kann, sondern ihrem Wesen nach Erfindung ist, sind erzählte Erinnerungen ungewiss und neigen zu Märchen und Legende. Vielleicht ist diese Unzuverlässigkeit allen Erzählens ein Grund dafür, dass uns Fotos manchmal mit ihrer Gewalt des »So war es wirklich« überfallen.
    Das Foto ist also wahr. Aber es ist nur so wahr wie der flüchtige Augenblick, in dem es entsteht, so wahr wie dieser: Dein Vater trägt eine Strickjacke mit Norwegermuster, darunter ein weißes Hemd, über dem sich Hosenträger spannen. Onkel Fritz hat einen hellen Leinenanzug an, unterm Jackett einen leichten Pullover mit V-Ausschnitt. Sie stehen vor dem bereits aufgestellten, aber noch ungeschmückten Weihnachtsbaum, lächeln in die Kamera und schütteln sich die Hände, als hätten sie soeben gemeinsam eine enorme Leistung vollbracht, eine Freundschaft besiegelt oder einen Handel abgeschlossen.
    Klack!
    Sie posieren in einer Haltung, die dem Augenblick gar nicht angemessen ist. Daraus resultiert der Witz oder Humor des Bildes, aber dieser Witz zündet nur, wenn du dem Foto die Erinnerung beimischst. Oder steigt Erinnerung aus dem Bild wie ein unsichtbarer Rauch? Wie Atem?

    Ob Oma mit einem Zollstock zu Werke gegangen war oder sich auf ihr ebenso bewährtes wie gesundes Augenmaß verließ, blieb unklar. Jedenfalls behauptete sie mit der ihr sehr eigenen, keinen Widerspruch duldenden Selbstgewissheit, der Wagen der Tinottis stünde mit seinem Heck keine zehn Zentimeter von der Grundstücksgrenze entfernt, und die überstehende Traufe des Wagendachs rage in westlicher Richtung mindestens zwei, wenn nicht drei Zentimeter in den Luftraum unseres Grundstücks hinein. Aber damit nicht genug! Neben dieser Zirkuskutsche lägen mitten in den Johannisbeeren irgendwelche rostigen Metallstangen, und zwar gleichfalls bereits auf unserem Grund und Boden. Verboten sehe das aus. Was die Nachbarschaft sich da wohl denken müsse? Ganz zu schweigen von den Konsequenzen für die kommende Beerenernte.
    Mein Vater verdrehte die Augen zur Decke und steckte sich eine HB an. »Wenn dich das so stört, rede doch einfach mit den Leuten«, meinte er friedliebend.
    »Reden? Mit denen? Was das wohl für ein levantinisches Gefeilsche würde! Und selbst wenn. Solche Leute halten sich nicht an Verabredungen oder Verträge. Italiener sind von Natur aus unzuverlässig. Denk doch nur mal an den Krieg. Erst mit Adolf Siege feiern, und wenn’s heikel wird, in Deckung gehen. So geht es nicht. Mein armer Eugen.«
    »Ach Mutti«, seufzte meine Mutter.
    »Nein, nein«, sagte Oma resolut, »da muss jetzt ein Zaun her. Die werden sich noch wundern, die Nottis.«
    »Sie heißen nicht die Nottis, sondern Tinotti«, sagte ich.
    »Du schweigst mal lieber ganz still.« Oma blitzte mich an. »Mit wem du dich so rumtreibst. Jugend von heute.«
    »Wir wissen doch gar nicht genau, wo die Grundstücksgrenze verläuft«, machte mein Vater einen letzten, matten diplomatischen Vorstoß zu friedlicher Koexistenz.
    »Du vielleicht nicht«, sagte Oma, »aber ich weiß es genau. Da braucht es erst gar keine geodätischen Vermessungen durchs Katasteramt. Die Grenzmarkierungen sind hinlänglich bekannt, seit dies schöne Haus und der Schandfleck gebaut wurden. Die Grenze verläuft in grader Linie vom Birnbaum zur Kastanie, und die fluchtet mit der Straßenlaterne. Die kennt Markus übrigens bestens.«
    »Pst«, sagte meine Mutter, »Echo des Tages«.
    Damit war Ruhe, und die Korrespondenten im Radio warteten ausnahmsweise auch mit keinen neuen Schreckensmeldungen von der Front des Kalten Kriegs auf, aber derart fuchsig, wenn nicht gar heimtückisch, hatte ich Oma noch nie erlebt. Cruella de Vil zum Quadrat.

    Zwei Tage später erschien Bauunternehmer Siefken, ließ sich von Oma den Grenzverlauf zeigen, erklärte zwei mitgebrachten Arbeitern, was sie zu tun hätten, und verschwand mit seinem todschicken Borgward. Morgen wollte er mit seiner Freundin in den Weihnachtsurlaub aufbrechen, Skifahren in Südtirol.

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