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Klack: Roman (German Edition)

Klack: Roman (German Edition)

Titel: Klack: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Modick
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von Erinnerungen.
    Und du fragst dich, was aus Clarissa geworden ist.

    Zu meiner Enttäuschung war Clarissa nicht da, als ich nachmittags in der Eisdiele erschien, aber ich traute mich nicht, ihren Vater nach ihr zu fragen. Er dachte sich sicher seinen Teil dabei, als ihm so plötzlich ein freiwilliger Hilfsarbeiter ins Haus schneite. Der Vorwand mit dem Gitarrenunterricht war ja so windig wie das Sturmtief über der Nordsee. Wir kratzten eine Stunde lang Tapetenreste von den Wänden und strichen Gips über Löcher und abgebröckelten Putz, wobei Herr Tinotti kaum etwas sagte, sondern halblaut vor sich hin pfiff und sang. Dann verabredeten wir uns für acht Uhr zum Gitarrenunterricht, und ich hoffte inständig, dass Clarissa daran teilnehmen möge. Sonst hätte ich nämlich mein Opfer für nichts als G-Dur und D-Dur gebracht.
    Meiner Vernarrtheit opferte ich sogar die sechste und letzte Folge des Serienkrimis Das Halstuch von Francis Durbridge, der seit zwei Wochen das fernsehende Deutschland in Atem hielt. Kein Mauertoter war so populär wie die erwürgte Journalistin Diana Winston alias Eva Pflug, kein Politiker des freien Westens so seriös und scharfsinnig wie Heinz Drache als Kriminalinspektor Harry Yates, kein Kommunist durchtriebener als Albert Lieven in der Rolle des zwielichtigen Clifton Morris, kein russischer Panzer beklemmender als der Anblick des Halstuchs im Geigenkasten, kein Rüstungswettlauf erregender als die Suche nach dem Mörder, der heute, in der letzten Folge, endlich entlarvt werden musste. Wenn die Sowjets einen Einmarsch nach Westdeutschland planten, wäre dieser Abend mit seinen leer gefegten Straßen der ideale Zeitpunkt gewesen. Man hätte es erst gemerkt, nachdem der Halstuchmörder gefasst worden wäre, und die Explosion einer Atombombe hätte man bestenfalls als lästige Bildstörung beklagt.
    Ich hatte die ersten fünf Folgen zusammen mit Detlef und Rudi in Peter Klinges Elternhaus gesehen, weil Peters Eltern sich die Serie nebenan in Gesellschaft von Nachbarn ansahen. Hanna saß mit Sabine im Haus einer anderen Freundin vor der Glotze – jedenfalls behauptete sie das. Da sie sich jedoch immer auffällig zurückhielt, wenn am nächsten Tag die Rede auf die neueste Folge kam, hatte ich Hanna im Verdacht, mit Dieter Bernholz jene Dinge zu treiben, die ich nur allzu gern mit Clarissa getrieben hätte, während der unheimliche Mörder sein grausiges Unwesen trieb. Und auch meine Eltern verfolgten Das Halstuch in sogenannter geselliger Runde, indem sie sich wechselseitig mit zwei befreundeten Ehepaaren trafen – Teil eins bei Dittmanns, Teil zwei bei uns und wieder von vorne. Mit dabei waren Langners; die Ärmsten hatten noch gar keinen eigenen Fernseher.
    Der letzte Vorhang hob sich heute vor unserem Gerät, verschließbarer TV-Schrank, doppeltürig, echt Eichenfurnier, Telefunken. Meine Mutter hatte alles fürs gemeinsame Mörderraten vorbereitet, Schnittchenplatte mit Gewürzgürkchen, Mettigel und Käse-Trauben-Spieße, dazu Salzletten und Erdnussflips, Bier und Alten Hullmann für die Herren, Liebfrauenmilch und Verpoorten Eierlikör für die Damen. Hanna hatte sich bereits aus dem Staub gemacht. Während die Erwachsenen sich wie aufgeregte Kinder vorm Fernseher versammelten, schob ich mir in der Küche schnell noch ein paar Schnittchen von der Nachschubplatte rein, wartete auf den Tagesschau-Gong und stahl mich dann, die Gitarre unterm Arm, aus dem Haus.

    Die Klingel des Schandflecks war defekt. Auf mein Klopfen öffnete Enzo. Clarissa und ihr Vater saßen am Küchentisch. Unter dem Lotta-Continua-Plakat lehnte eine Gitarre, und auf dem Tisch lag eine Mandoline. Clarissa trug einen engen roten Acrylpullover mit Rollkragen, einen schwarzen Rock und an den nackten Füßen Hausschuhe aus geflochtenem Bast. Die Zopfschlange ringelte sich um ihren Hals und in der Mulde zwischen ihren Brüsten abwärts. Ich starrte sie an. Mein Blick war wohl das, was man Stielaugen nannte.
    Aus einer Korbflasche schenkte Herr Tinotti Rotwein in Senfgläser, mischte für Clarissa und mich Wasser dazu. Sogar Enzo bekam ein winziges Schlückchen Wein, aufgegossen mit Wasser. Mein Herz raste, mein Mund war so trocken, dass meine Worte wie Glassplitter klingen mussten, aber mir fehlten sowieso die Worte. Ich trank einen Schluck, nahm eine Olive von einer Untertasse, weil Clarissa das auch tat. Das beruhigte mich etwas. Ich glaube, dass Clarissa mich fragte, ob ich irgendein bestimmtes Lied lernen wolle.

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