Klagelied auf einen Dichter
dem Pfarrer
erscheint. Wofür wird er denn sonst bezahlt, der alte Nichtstuer, wenn nicht
dafür, daß er einem die bösen Geister vom Leibe hält?« Das Gesicht, mit dem er
das sagte, blieb ruhig, doch die Worte, die so sehr das schottische
Dorfgeschwätz in seiner ganzen Bosheit heraufbeschworen, waren erschütternd in
ihrer Bitterkeit. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, daß es seine
übliche Stimmung war; es war eher die augenblickliche Folge eines Schocks. Aber
offenbar war es nicht die Nachricht, daß Ranald Guthrie noch unter den Lebenden
weilte, die ihn so schockierte.
Jervie machte eine Handbewegung, die Erschöpfung und die Bitte um
Entschuldigung in einem zeigte. »Können wir vielleicht«, sagte er, »Ihre
Geschichte – zuerst hören?«
IV.
Anderthalb Stunden waren vergangen. Ich stand auf einer kleinen
Terrasse vor dem Schulzimmerfenster, die ich bisher nicht bemerkt hatte.
Überall herrschte tiefe Stille, die Luft war feucht und seltsam warm, und auch
in der Nacht taute es weiter. Der Mond, nun beinahe voll, stand hoch am klaren
Himmel. Zu meiner Rechten konnte ich zwischen den Reihen der schwarzen Lärchen
die schmalen, schneebedeckten Feldstreifen des kleinen Bauernhofes sehen, eine
gezackte Reihe von Lärchen dahinter, die vor dem leuchtenden Himmel wirkten wie
aus Pappe. Doch zu meiner Linken, den See hinunter, sah ich weit in die Nacht
hinein, ließ den Blick an dem langgestreckten Band aus dunklem Eis
entlangwandern, jenseits dessen sich, klar und schön und wolkenlos, die
trotzigen Höhen von Ben Mervie und Ben Cailie erhoben. Das Herz war mir schwer
von Vorahnungen.
Jervie kam heraus und stand neben mir, betrachtete schweigend den
See und die Berge. Dann sagte er leise: »Wie friedlich es ist.«
Wir schwiegen lange, dann durchdrang vom See her ein Laut wie ein
Pistolenschuß die Stille: das Eis brach. Der Laut, schneidend in dieser Stille,
rüttelte ihn auf. »Mr. Appleby – kommen Sie herein.« Und er ging wieder ins
Schulzimmer.
Stewart war oben im Turm; Gylby kehrte eben mit einem Armvoll Holz
zurück. Jervie ging wieder zu dem Platz, an dem er gesessen hatte, schob
sorgsam die Bögen von Gylbys Tagebuch zurecht und legte sie neben das Büchlein
mit dem Bericht, den Ian Guthrie hinterlassen hatte; dann fiel ihm etwas am
anderen Ende des Zimmers auf, er nahm eine Kerze und ging die Bilder
betrachten, die indischen Darstellungen von Vögeln. Er machte kehrt, blieb vor
dem Feuer stehen und rezitierte – seltsam rührend, daß es gerade hier wiederum
erklang –:
Dem Tod entfliehen kannst du nicht,
Drum rüste nur beizeiten dich,
Zum Auferstehn nach Todes Weh,
Timor Mortis conturbat me.
Er wandte sich an Wedderburn. »Ranald Guthrie«, sagte er, »hat
sich schon lange dem Teufel verschrieben. Und der Teufel revanchierte sich
dafür mit einem Geschenk ganz nach seiner Art: mit Stolz.«
»Kein Zweifel«, brummte Wedderburn.
»Mr. Appleby, Sie haben sich gefragt, ob der Schlüssel zu all dem
Gewirr von Motiven, das Sie entdeckt haben, die Habgier ist – Geiz als die
Leidenschaft, die ihn beherrscht. Ich glaube, das Schlüsselmotiv ist Guthries
zweiter allesbeherrschender Trieb, der Stolz. Ein Stolz, der ihn noch mehr in
seiner Gewalt hat als die Habgier, die ihn unter den Vogelscheuchen umgehen
ließ. Stolz, der ihn einen entsetzlichen, diabolischen Weg zu einem Ziel gehen
ließ, das um jeden Preis erreicht werden mußte. Er verbot die Ehe zwischen Neil
Lindsay und Christine Mathers. Sie durfte nicht sein. Doch Stolz verbot es auch
wiederum, den Grund dafür zu nennen. Neil und Christine sind Bruder und
Schwester.«
Sybil Guthrie stieß einen unterdrückten Schrei aus, dann schwieg sie
wieder.
»Halbbruder und Halbschwester, genauer gesagt. Christine galt stets – obwohl es nie jemand wirklich gesagt hat und alle immer wieder daran
zweifelten – als die Tochter des Bruders von Guthries Mutter, der, wie man
wußte, zusammen mit seiner Frau bei einem Eisenbahnunglück in Frankreich
umgekommen war. In Wirklichkeit ist Christine jedoch die Tochter von Guthries
eigener Schwester, Alison Guthrie.
Alison war eine exzentrische, eigenbrötlerische Frau, deren größte
Leidenschaft der Vogelkunde –«
Ich unterbrach ihn. »Christine –«
»Ja, ich weiß. Sie hat selbst eine Leidenschaft dafür. Doch Alison
studierte nicht nur die Geschöpfe der Lüfte; ebenso groß, und nicht so
unschuldig, war ihr Interesse an der männlichen Dienerschaft. Solche Frauen
findet man
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