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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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unterwegs. Der
Weg verläuft dort am Ufer jenes Arms, mit dem der See bis fast an Castle
Erchany heranreicht und von dem man in den alten Zeiten den Burggraben mit
Wasser füllte. Und da stand Guthrie und starrte hinaus auf Loch Cailie in den
grimmigen, fahlen Sonnenaufgang, so aufmerksam, als warte er, daß jemand ihm
aus dem goldenen Wagen der Sonne ein Briefchen herunterwürfe. Gerade als die
Lehrerin zu ihm hinüberblickte, warf er plötzlich die Arme in die Luft, die
Finger ausgespreizt, als wolle er durch sie hindurchsehen, wie das Blut in
ihnen pochte. Unheimlich war es, und der Lehrerin fielen all die Gerüchte
wieder ein, daß er zu den alten und bösen heidnischen Götzen bete; sie lief
eher, als daß sie ging, bis sie hinter der ersten Biegung des Weges in den
Schutz der Lärchen gelangte, und ich bin sicher, sie hielt nicht ein einziges
Mal inne, genausowenig, wie die junge Isa es getan hatte, bis die erste Meile
zwischen ihr und Castle Erchany lag. Doch immerhin brachte sie eine Beute mit
zurück: mit soviel Stoff für Klatschgeschichten war noch keine vor ihr das Tal
heruntergekommen.
    Und sie war die letzte in Kinkeig, die von Ranald Guthrie zu hören
bekam, bevor er sein tragisches Ende nahm – die letzte außer mir. Es war die
Nacht des 28. November, die Miss Strachan im Herrenhaus verbrachte. Und am
10. Dezember, kurz bevor der große Schnee unsere Täler fast ganz von der
Außenwelt abschnitt, war es, daß Christine Mathers zu mir kam und mir ihre
Geschichte erzählte.

IX.
    Es kam nicht oft vor, daß Christine herunter nach Kinkeig kam. Viel
mehr als ein Bier im Arms und hie und da ein Schwätzchen in der Küche und vielleicht
noch ein Spaziergang mit den anderen Mädels durch den Ort gab es ja auch an Attraktionen
nicht, außer am Sonntag. Und Guthrie hätte nie zugelassen, daß Christine zu Dr.
Jervie in den Gottesdienst kam; er wollte mit der Kirche nichts zu schaffen haben,
und schon gar nicht mit dem Pfarrer. Denn als er noch frisch in der Gemeinde war
und sich gerade erst ein wenig Überblick verschafft hatte, spazierte unser Pfarrer
einmal hinauf nach Erchany und unterhielt sich ein wenig mit dem Gutsherrn, und
er redete ihm ins Gewissen, daß es doch ein Jammer sei, ein so feines Mädchen wie
Christine in solcher Einsamkeit großzuziehen und sie so sehr dem Gerede der Leute
auszusetzen. Vielleicht weil Dr.   Jervie ein Gelehrter war und er ihn respektierte – Gelehrter, der er selbst ja auch war –, ließ Guthrie diesmal nicht, wie seinerzeit
auf seinen Vorgänger, die Hunde auf ihn los, und der alte Pfarrer war ja auch nichts
weiter als ein Polterer, der weder predigen konnte noch von Theologie eine Ahnung
hatte. Doch er hörte Dr.   Jervie grimmig zu, und grimmig verneigte er sich, als er
ihn hinausbegleitete, und seit jenem Tag war der Gutsherr grußlos an ihm vorübergegangen,
wenn sie sich auf der Straße begegneten. In der Kirche hatte ihn nie jemand gesehen,
das stand fest, und Christine und die Hardcastles ebensowenig – und bei Tammas hätte
ich meine Zweifel, daß der arme Schwachkopf überhaupt je im Leben gehört hat,
daß es so etwas wie einen Katechismus gibt.
    Christine kam also, wie gesagt, selten nach Kinkeig, und wenn sie kam,
dann besuchte sie Ewan Bell, den Schuster. Wir beide kannten uns schon seit vielen
Jahren, denn die Amme, die Guthrie als erste für sie anstellte, war die Tochter
meiner Schwester. Damals gab es einen Ponywagen im Herrenhaus, und der Gutsherr,
der noch kein gar so düsterer Mann war, als das Mädchen klein war, ließ die beiden
nach Herzenslust damit fahren, und oft kamen sie her und besuchten Onkel Ewan – denn das war ich für das Kind ebenso wie für meine wirkliche Nichte. Selbst unverheiratet
und ohne Kinder, wie ich war, gewann ich die kleine Christine Mathers von Herzen
lieb. Und als sie größer wurde und Guthrie Mistress Menzies ins Haus holte, jene
geduldige, sanftmütige vornehme Dame, der Christine verdankte, was sie an schrulliger,
weltfremder Bildung besaß, kam sie mich auch weiterhin ab und zu besuchen, manchmal
mit den Sorgen, die sie auf Erchany hatte, manchmal mit ihren Fragen nach den Dingen
der Welt. Dann, als sie älter wurde und sah, wie unnatürlich sie lebte, eine Miranda
gestrandet auf ihrer Insel mit einem finsteren Prospero, zog sie sich immer mehr
in sich zurück und war von einer Traurigkeit umfangen, die tief in ihrem Herzen
saß. Nach wie vor kam sie dann und wann zu mir, doch sie sprach kaum ein Wort:

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