Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
Vom Netzwerk:
hatte. Und dann rief er – wenn
auch nur leise –:
    »O mein Amerika, mein neu entdecktes
Land!«
    Wiederum schlackerte ich mit den Ohren. Und desgleichen im
nächsten Augenblick. Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus, und ganz
unvermittelt war er mit seinen Gedanken wieder bei mir. Mit einem höflichen Lächeln
erklärte er: »In der Regel leiste ich meiner Nichte noch eine halbe Stunde
Gesellschaft.« Ich kann mir nicht vorstellen, daß er in diesem Augenblick
wußte, was er noch im Augenblick zuvor auf dem Gang zitiert hatte. Mit anderen
Worten, es scheint mir beinahe ein Fall von gespaltener Persönlichkeit: zwei
Guthries, die voreinander Versteck spielen wie Zwillinge auf einer
Varietébühne. An dieser pittoresken Theorie – der knauserige Guthrie A, der
seine Hunde darben läßt und durch dessen zerbrochene Fensterscheiben der Wind
pfeift, und der verschwenderische Guthrie B, der uns mit Kaviar bewirtet – spann ich noch weiter, nachdem wir bereits zu Christine und Sybil eingetreten
waren, in das Schulzimmer, wie es genannt wird. Das legte auch eine andere
Erklärung dafür nahe, daß Hardcastle nach dem Doktor gerufen hatte: der
Gutsherr hatte einen Anfall dieser milden Form von Irrsinn, und es sollte
unauffällig ein Bader ins Haus geschmuggelt werden. Vielleicht nicht gerade
eine geniale Idee, doch der Satz des gräßlichen Hardcastle ging mir nicht aus
dem Sinn. Ist das der Doktor? Wenn Erchany ein
Geheimnis birgt, dann wird, dessen bin ich mir sicher, der Schlüssel zu diesem
Geheimnis die Erklärung dieser Frage sein.
    Diana, wenn Du Dir überhaupt noch die Mühe machst, meinen Hirngespinsten
zu folgen, dann wirst Du mich an dieser Stelle unterbrechen und sagen: »Guthrie
erwartet den gefährlichen Neil Lindsay; Hardcastle erwartet den geheimnisvollen
Doktor: da liegt es doch auf der Hand, daß die beiden ein und dieselbe Person sind – Dr.   Neil Lindsay, der vielleicht nicht unbedingt in seiner Eigenschaft als Arzt
erwartet wird. Wie wäre es, wenn er der unerwünschte Verehrer deiner ach so verliebten
Christine wäre?«
    Auf diesen hübschen Einwand könnte ich Dir nichts Vernünftiges
entgegnen. Daß Christine einen Verehrer hat – ja daß es an ihrem gesamten
Horizont nichts außer diesem Verehrer gibt –, da stimme ich Dir ganz und gar
zu. Und dieser Verehrer könnte Neil Lindsay sein – oder auch Hardcastles
»Doktor«. Doch daß diese beiden ein und derselbe sind, kann ich einfach nicht
glauben; etwas in der Art, wie der abscheuliche Hardcastle von beiden sprach,
verbietet diese Deutung. Vielleicht werden wir es mit der Zeit noch erfahren.
    Es wird ohnehin Zeit, daß ich etwas zum Thema Zeit sage. Es ist
Dienstag, der 24. Dezember, 8   Uhr morgens; diese Zeilen, liebste Diana, so
tief empfunden sie auch sind, haben mich doch nur die letzten dreieinhalb
Stunden beschäftigt – einschließlich der Pausen, um die Kerze neu zu entzünden.
Denn der Wind wird immer stärker, und mein Zimmer ist ein wahrer Saal des
Äolus: gewaltige Winde, die oben an die Decke stoßen, und kleine Wind-Kinder,
die am Boden umhertollen wie Putti aus dem Cinquecento und ihre sanften Stimmen
unter dem Bett erproben. Das Feuer von gestern abend ist sehnsüchtige
Erinnerung; es ist teuflisch kalt hier; ich sitze am Fenster – denn dort ist es
nicht kälter als im ganzen Raum – in einer Art Iglu, den ich aus meinem
Federbett gemacht habe, und hoffe, daß ich bald zu so etwas wie einem Frühstück
gerufen werde. Draußen schneit es noch immer, der Wind bläst den Schnee in alle
Richtungen, und ich fürchte, daß ich noch auf Tage hier festsitzen werde.
Gestern abend war allerdings die Rede davon, welch wundersame Kräfte der
Stallbursche von Erchany im Schnee entwickelt. Wenn ich also hierbleiben muß,
besteht wenigstens die Hoffnung, daß ich mit seiner Hilfe ein Telegramm an Dich
auf den Weg bringen kann. Die Sonne müßte längst aufgegangen sein, aber man
sieht noch kaum etwas, so bleigrau ist der Himmel. Vor meinem Fenster gibt es
nichts als dämmriges wirbelndes Weiß. Nur ein wenig links von der Mitte kann
ich einen Einschnitt ausmachen, ein mattes Glimmen, das mich schon seit zwanzig
Minuten beschäftigt. Es ist, als ob der Schnee auf einer dunklen, wärmeren
Stahlfläche schmölze: ich glaube, es ist Wasser – der zugefrorene Arm eines
Sees, der sich bis fast an die Burg heranwindet –, und der entsetzliche Wind
bläst den Schnee von der Eisfläche fort.
    Nichts regt sich, kein Anzeichen von

Weitere Kostenlose Bücher