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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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sind.«
    Ich kann nicht sagen, ob der Schock, der mich in diesem Augenblick
durchfuhr, auf geheimnisvolle Weise von jenen unschuldigen Worten verursacht
wurde, oder ob es daran lag, daß im gleichen Augenblick der unaussprechliche
Hardcastle erschien, der offenbar auf der anderen Seite der Tür in der Nähe
gewartet hatte und nun herbeigeschlurft kam wie einer der weniger attraktiven
Teufel auf einem Bild von Hieronymus Bosch. Er schien dorthin bestellt;
vielleicht kommt er jeden Abend um diese Zeit, um seine Befehle
entgegenzunehmen – jedenfalls verlor Guthrie keine Zeit, ihm jetzt eine Order
zu erteilen. »Hardcastle«, sagte er streng, »wenn der junge Lindsay kommt – obwohl ich nicht glaube, daß er in diesem Schnee heraufkann –, müssen Sie ihn
einlassen. Ich werde noch einmal mit ihm sprechen.«
    Hardcastle zog langsam die Hand hinter dem krummen Rükken hervor – ich erwartete fast, daß sie ein offenes Rasiermesser halten würde – und kratzte
sich nachdenklich das stopplige Kinn. Dann sagte er – und ich kann es nur als
einen Versuch werten, jene rauhe und bedingungslose Treue zu mimen, wie man sie
von den Gefolgsleuten in den besten schottischen Romanen kennt –: »Glaubt mir,
Herr, der Junge ist gefährlich.«
    »Was soll das heißen?« Der Gutsherr blieb stehen und sah seinen
Verwalter mit einem Blick an, der in diesem düsteren Korridor etwas geradezu
Gewalttätiges hatte.
    »Ich sage, Neil Lindsay hat nichts Gutes vor.«
    Der Auftritt als treuer Diener, oder was immer es sonst sein sollte,
machte offensichtlich wenig Eindruck auf seinen Herrn. »Lindsay«, erwiderte er
kalt, »kann zu mir in den Turm kommen. Nun lassen Sie uns den Damen
Gesellschaft leisten, Mr.   Gylby.«
    Und so machten wir uns wieder auf den Weg. Mein Verstand war
allmählich nicht mehr der wacheste; wir waren schon halb den Korridor hinunter,
bevor mir die ersten Zweifel kamen, ob Guthrie von diesen finsteren
Prophezeiungen wirklich so unberührt war, wie er sich gab. Ich konnte es mir
nicht vorstellen, denn ich selbst war zutiefst beunruhigt: dieser Vorfall
lieferte mir etwas, worauf ich geradezu gewartet hatte. Ich habe geschrieben,
daß die Atmosphäre auf Erchany gespannt gewesen sei,
aber inzwischen kam es mir vor, als hätte ich ebensogut von einer Atmosphäre
der Furcht schreiben können. Doch wer fürchtete sich – und wovor?
    So weit war ich in meinen Meditationen gekommen – Du wirst sagen,
daß mir einfach nur ein Bett und ein paar Stunden Schlaf fehlten –, als ich vor
Schrecken beinahe aus der Haut fuhr. Denn »Furcht« war genau das Wort, das
Guthrie im selben Augenblick aussprach. Genauer gesagt sprach er es auf Latein:
»Timor …« Leise, doch deutlich zu vernehmen, hatte er vor sich hingemurmelt: » Timor Mortis conturbat me. «
    Ein Blick zu ihm zeigte mir, daß er meine Gegenwart vollkommen
vergessen hatte – was mir den Eindruck des Irrsinns nur umso mehr bestätigte.
Und den Korridor entlangeilend, den Blick auf einen Punkt ein wenig unterhalb
der Decke geheftet, sprach er:
    Auch Clerk von Tranent liegt im Grab,
    Der uns den kühnen Gawan gab,
    Um Gilbert Hay ist’s längst geschehn,
    Timor Mortis conturbat me.
    Blind’ Harry gar und Sandy Traill
    Und Patrick Johnston, meiner Seel’
    Wir seh’n sie nie und nimmermehr,
    Timor Mortis conturbat me.  …
    Diana, in Deinem ganzen Leben hast Du nichts auch nur halb so
Grausiges gesehen wie diesen gespenstischen schottischen Gutsherrn, der da
verzückt, vom Wind umtost, über seinen verrottenden Korridor schritt und dabei,
halb singend, jene unheimliche Totenklage Dunbars rezitierte!
    Er würgt’ Herrn Roull von Aberdeen,
    Den edlen Roull von Corstorphine,
    Nicht ihresgleichen sah man je,
    Timor Mortis conturbat me.  …
    Wir bogen um die nächste Ecke, und der Wind blies die Worte von
mir fort, so daß ich nur noch ein Murmeln hörte. Im selben Moment flackerte die
Kerze heller auf, und einen kurzen Augenblick lang sah ich ihn deutlicher, als
ich bisher in diesem düsteren Gemäuer vermocht hatte. Und ich schwöre Dir, die
Furcht vor dem Tode stand ihm tatsächlich im Gesicht geschrieben.
    Der zweite Korridor nahm und nahm kein Ende. Schließlich hielten
wir an einer Tür, die, vermutete ich, zu dem Raum führte, in den Sybil und Christine
sich zurückgezogen hatten. Guthrie stand reglos da, er murmelte nun in einem
anderen Rhythmus, sah die Tür an oder durch diese hindurch mit einem Ausdruck,
der nun, fand ich, etwas geradezu Verzücktes

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