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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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Medaillon. »Erkennen Sie das
Motiv?« fragte er.
    Ich erkannte sogleich die Figuren aus dem Treppenhaus wieder. Das
Wappen der Guthries. Sybil nahm es und betrachtete es, doch sagte sie nichts.
    »Das Familienwappen«, erklärte Guthrie. »Am Ende mag die junge Dame
sogar mit uns verwandt sein?«
    Guthrie ist natürlich höflicher alter Herr genug, daß er »die junge
Dame« sagen kann: trotzdem hatte ich das Gefühl, daß diese konventionelle
Wendung – paradoxerweise – der Frage Schärfe verlieh.
    Der Wortschwall, mit dem Sybil reagierte, überraschte mich. »Mr.   Guthrie,
wäre das nicht wunderbar! Ich weiß noch, wie stolz mein Vater immer auf unsere schottischen
Vorfahren war. Ich hätte ja zu gerne Verwandte, die in
einer so romantischen alten Burg leben wie Ihrer hier. Die muß doch
Jahrhunderte alt sein?«
    Du darfst nicht denken, nun wo Christine die Bühne betreten hat, sei
meine Begeisterung für Sybil erloschen: Sybil ist eine faszinierende Frau, auch
wenn sie das Irrlicht war, das mich hierher geführt hat. Umso verblüffter war
ich darüber, wie dick sie bei ihrer Antwort auf Guthries höfliche Worte
auftrug. Doch im gleichen Maße, wie meine Augen größer wurden, kniff Guthrie
die seinen zusammen. »Oh ja, die Burg ist alt. Die Grundmauern reichen bis ins 13. Jahrhundert
zurück. Ich weiß«, fuhr er vorsichtig fort, »daß wir Verwandte in den
Vereinigten Staaten haben. Eine Familie wie die unsere verliert selbst die
entferntesten Zweige nicht aus den Augen.«
    »Mr.   Guthrie, das ist ja aufregend! Und bestimmt kommen sie nach
Erchany zu Besuch!«
    »Bisher haben sie mich nicht besucht.« Und ich glaube, Guthrie
lächelte. »Soviel ich weiß, zumindest.« Er zögerte. »Vor ein oder zwei Jahren
haben sie mir allerdings ihre – Freunde geschickt.«
    Christine saß ein ganzes Stück ab von mir, und ich spürte wohl eher
psychisch als körperlich, wie sie bei diesen Worten erzitterte. Rasch wandte
ich mich zu ihr um. Und ich konnte gerade noch in ihren Zügen lesen, was ich
auch in denen des Onkels schon gesehen hatte: Furcht.
    Guthrie wartet und Christine wartet – doch nicht unbedingt auf das
gleiche. Guthrie fürchtet sich und Christine fürchtet sich – doch wiederum
vielleicht nicht vor dem gleichen. Hier, kurz gesagt, liegt das Rätsel, das
mich im Augenblick beschäftigt – ja beinahe schon selbst ängstigt –; hier,
Diana, liegt es verborgen: das Geheimnis von Burg Erchany!
    Sybil gab nichts über ihre eigene Familie preis, und Guthrie
verfolgte jene erste höfliche Andeutung, daß es womöglich eine Verwandtschaft
geben könne, nicht weiter. Statt dessen erzählte er nun von seiner eigenen
Kindheit – was nicht recht zu ihm paßte, fand ich, denn so anheimelnd es auch
sein mochte, wenn der alte Gutsherr seine Gäste mit goldenen Erinnerungen an
seine jungen Jahre auf Erchany unterhielt, kam einem das doch merkwürdig vor
bei einem Mann, der von Natur aus so verschlossen schien. Es dauerte nicht
lange, bis er Sybil im Gegenzug nach ihren eigenen Erinnerungen fragte, und
selbst meinem müden Hirn ging auf, daß er auf Umwegen nach wie vor versuchte,
etwas über ihre Familie herauszubekommen. Allerdings machte es wirklich den
Eindruck, als seien seine Interessen ganz allgemeiner Art, und man hätte ihn
für einen Forscher halten können, der sich der Sozialgeschichte Amerikas
verschrieben hat, insbesondere den Dingen des alltäglichen Lebens vor
vielleicht zwanzig Jahren. Sybil kommt aus Cincinnati, Ohio – soviel habe ich
immerhin erfahren –, und das ist ein Name, der für mich etwas geradezu
Hypnotisches hat. Cincinnati, Ohio … Cincinnati, Ohio: wunderbar einschläfernde
Kadenzen; nicht lange, und mir fielen die Augen zu. Doch dann wachte ich mit
einem Ruck wieder auf.
    Guthrie war zu dem fast erloschenen Feuer gegangen und stand davor,
einen kleinen Scheit in der Hand: ich glaube, er wollte nicht mehr nachlegen,
als unbedingt nötig war. Und als er dastand und zögerte, sagte Christine: »Du
mußt dich entscheiden.«
    Nicht viel, wirst Du sagen, um jemanden aufzuwecken – gewiß weniger
als der kleine Schlag, mit dem das Scheit sogleich in die Glut fiel. Doch diese
Bemerkung war geladen mit all der Heftigkeit der Gefühle, die ich bei Christine
vermutet hatte: ich wußte, mit diesen wenigen Worten brachte sie eine innere
Verzweiflung zum Ausdruck, und das mit der grimmigen Genugtuung, die einem eine
geistreiche Bemerkung gibt. Was immer es war, worauf sie anspielte – es

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