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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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ein leichtes
Amüsement zu spüren war. Sie war gespannt, könnte ich mir vorstellen, wie gut oder
schlecht der höfliche junge Engländer wohl mit der kuriosen Lage fertigwürde,
in die er da geraten war.
    Denn es war, das wirst Du Dir ausmalen können, nicht gerade ein
entspanntes Mahl. Guthrie machte bisweilen eine höfliche Bemerkung oder
erkundigte sich nach etwas: ob unsere Wagen schwer beschädigt seien; ob wir
Freunde in der Gegend hätten und ob diese wüßten, daß wir die Straße nach
Erchany genommen hätten? Doch die meiste Zeit schwieg er; starrte entweder über
unsere Köpfe hinweg, tief in Gedanken versunken, oder er musterte uns mit
seinen zusammengekniffenen Schachspieleraugen in einer Art, die mir immer
weniger gefiel. Ich glaube, Sybil spürte es auch; wie ich schon sagte, kann sie
ja selbst streng genug dreinblicken, und ich hatte den Eindruck, daß sie
anfing, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen – jedenfalls studierte sie ihn
aufmerksam genug. Den Großteil der sozialen Verpflichtungen übernahm Christine,
und sehr hübsch tat sie das auf ihre schüchterne Art. Doch auch sie blickte
versonnen drein, der Blick Mirandas, ganz in die Zukunft gerichtet. Dieser
Blick muß es gewesen sein, der meine Aufmerksamkeit auf die Uhr lenkte.
    Es ist eine mächtige Standuhr, beinahe alt genug, daß sie seit den
Kindertagen der Burg in dem großen Saal stehen könnte, mit einem lauten und – so kam es mir vor – eigentümlich langsamen Ticken. Du weißt, wie gute
Schauspieler ein ungeheures Gefühl der Spannung aufbauen können, nicht wahr,
ein Gefühl, bei dem man einfach nur noch wartet? Ich spürte plötzlich, daß
genau das die Uhr für mich tat. Anders gesagt, ich übertrug auf ein
unpersönliches und in die Jahre gekommenes Werkzeug der Wissenschaft mein immer
stärker werdendes Gefühl, daß uns etwas Grausiges bevorstand, eine Katastrophe.
Eine Sinnestäuschung, sagte ich mir, verursacht durch Müdigkeit und Mangel an
Ernährung – und machte mich umso dankbarer über den Plum-Pudding mit einer
großzügigen Brandysoße her. Doch die Uhr tickte weiter und kündete weiter ihr
Unheil. Als Christine und Sybil sich schließlich zurückzogen, war ich schon
regelrecht hypnotisiert von dieser Uhr; hätte sie plötzlich die beiden Zeiger
wie Hände gebreitet und hätte sie gerufen: Schlaft nicht
mehr, Macbeth mordet den Schlaf! , so wäre ich zwar erschrocken, doch
gewundert hätte ich mich nicht. Und Du weißt zwar, daß ich empfänglich für
Stimmungen bin, aber ich lege es doch nicht darauf an, verrückt zu sein. Alle
Saiten auf Erchany waren zum Zerreißen gespannt und warteten auf etwas, und
ich, ich spürte einfach nur die Schwingungen davon.
    Doch gleich darauf stellte sich das ein, was Du wohl einen lichten
Augenblick nennen würdest – eine einfache und vernünftige Erklärung für die
Spannungen, die in der Luft lagen. Irgendwo im Haus mußte jemand recht schwer
krank sein. Hatte nicht Hardcastle, als er so vorsichtig seine kleine Hintertür
geöffnet hatte, herausgerufen, ob wir der Doktor seien? Worauf alle warteten,
das war, daß medizinische Hilfe durch diesen entsetzlichen Schnee zu ihnen
durchkam, und daß nur wir es gewesen waren, war eine Enttäuschung, die sie mit
großer Höflichkeit verbargen. Nur zwei Einwände schien es dagegen zu geben:
zunächst die widerstrebende, geradezu verschwörerische Art, wie Hardcastle
seine Tür jenen Spaltweit geöffnet hatte (aber das war vielleicht einfach nur
sein übliches Betragen); zum zweiten, daß, wenn die Besorgnis so groß war, daß
sie im Verhalten aller zu spüren war, es doch natürlich gewesen wäre zu fragen,
ob Sybil oder ich etwa über medizinische Kenntnisse verfügten (aber vielleicht
wirken wir zu jung dazu). Diese Idee hielt sich etwa fünf Minuten lang, dann
brachte Guthrie sie höchstpersönlich zu Fall. »Mr.   Gylby«, sprach er, als wir
uns von der Tafel erhoben, »der Schnee mag Sie noch eine ganze Weile hier
festhalten, und Sie müssen uns die äußerst einfache Weise, auf die wir hier
leben, verzeihen. Abgesehen von einem Stallburschen, der in der Scheune
schläft, besteht unser Haushalt nur aus meiner Nichte und mir und den beiden
Hardcastles.«
    Ich zeigte mich gebührend besorgt über die schwere Belastung, die
das für Miss Mathers – das ist Christine – sein müsse. Worauf Guthrie eine noch
ungeöffnete Kiste Zigarren ergriff, mir die Tür aufhielt und mit Nachdruck
sagte: »Ich bin froh, daß Sie gekommen

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