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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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war
etwas, worauf für sie alles ankam.
    Danach erinnere ich mich, wie man zu sagen pflegt, an nichts mehr.
Wir saßen noch eine Weile beisammen; Sybil und ich warteten, daß wir zu Bett
gehen konnten, und Guthrie und Christine warteten, ich weiß nicht worauf – aber
gewiß auf etwas, das jeden Moment geschehen konnte, Schritte auf dem Korridor
oder ein Ruf in der Nacht. Doch inzwischen war es halb elf geworden, und der
Zauber des Geheimnisvollen hatte seine Macht verloren; ich war froh, als man
uns wieder die große Treppe hinauf zu unseren Zimmern führte.
    Einzelheiten über die Schrecken dieser Nacht will ich Dir ersparen – umso bereitwilliger, als Mrs.   Hardcastle eben den Kopf zur Tür hereingesteckt
hat mit den Worten: »Wollen Sie denn gar nicht zum Frühstück herunterkommen?«
Die Ratten waren schon zum Abendessen hungrig gewesen, und manch niederes
Geschmeiß nicht weniger: bedenke den Einfluß, den so etwas auf die geistige
Verfassung hat, bevor Du zu hart über meinen wirren Bericht von Burg Erchany
urteilst. Ich habe zwei Stunden geschlafen, und vielleicht hat mich eine Ratte
geweckt, die einmal versuchsweise ein wenig an meiner großen Zehe geknabbert
hat, vielleicht auch nur eine Eule im Efeu, dessen Ranken sich unter meinem
Fenster in der Schneelast biegen. Normalerweise bin ich ja ein großer Freund
von Eulen, aber was ich auf Erchany zu hören bekommen habe, war doch des Guten
zuviel. Ich konnte mehrere Arten unterscheiden, die allesamt Betrübnis und
Verzweiflung in die Nacht riefen, und zumindest eine, deren Schrei ich noch nie
vernommen hatte – ein hohes, langgezogenes tu-iii ,
das mir wirklich das Blut in den Adern gefrieren ließ. Von Zeit zu Zeit
stimmten die Hunde ein, und man mußte sich geradezu zwingen nicht zu glauben,
daß sie Wölfe waren – oder Werwölfe –, die unter dem Einfluß eines Zauberers
stehen. Und unablässig der Wind. Bei stillem Wetter wird Erchany erfüllt sein
von Flüstern: im Sturm sind es mächtige Stimmen, doch was sie rufen, versteht
man nicht. Vielleicht kann ich am Morgen ja doch fort von hier und komme bis
zum Abend nach Edinburgh, und dann bin ich morgen mit einem frühen Zug bei Dir.
    Glaube mir, Diana, ich werde heroische Anstrengungen unternehmen.
Dein Dich liebender
    Noel.

II.
    Spät am
Heiligabend
    Nichts zu machen. Es ist zum Verrücktwerden, aber ich sitze in
diesem Schneesturm fest wie ein Forscher in der Antarktis, nur einen
Tagesmarsch vom Lager entfernt. Der Weg zum Dorf – Kinkeig – wäre für
antarktische Verhältnisse ein Katzensprung – neun Meilen ungefähr –, aber die
Lage ist aussichtslos: die Pfosten, die in einem normalen Winter die Straße
markieren, sind fast alle unter dem Schnee verschwunden; der heftige Wind und
der noch immer fallende Schnee umfangen einen schon beim ersten Schritt vor die
Tür mit einem wirbelnden weißen Schirm, daß einem schwindelig davon wird. Von
Stunde zu Stunde müssen die Schneewehen tiefer und damit wohl auch gefährlicher
werden. Selbst der sagenhafte Tammas – der Stallbursche auf Erchany, der sich
als sabbernder Schwachkopf erwiesen hat (und damit die Ausstattung der Burg
doch aufs schönste vervollkommnet) – selbst Tammas kommt bei einem solchen
Unwetter nicht mehr durch. So muß ich mich denn damit abfinden – Diana,
Jungfrau und Herrscherin der Monde und der Sterne! –, daß Du das Weihnachtsfest
ohne Nachricht von mir verbringen wirst, voller Sorge und voller Wut. Das ist
ja das Tückische, wenn uns die Zivilisation mit ihrem so dichten Netz umgibt;
man kann sich gar nicht vorstellen, daß jemand hindurchfällt und auch noch
einigermaßen weich fällt, ohne daß ein großes Unglück geschehen ist. Ich habe
mir nichts gebrochen – das einzige, was ich zertrümmert habe, ist das
Spielzeugauto einer bezaubernden jungen Dame –, und ich bin auch nicht im
Gefängnis gelandet; ich sitze nur einfach bei sehr schlechtem Wetter neun
Meilen vom nächsten Telefon fest.
    Und ich langweile mich. Nach meinen Schwärmereien der frühen
Morgenstunden ist das eine herbe Enttäuschung, doch im harten Licht des Tages
schwindet – wie ja nicht anders zu erwarten war – der Zauber von Erchany
schnell dahin. Der Dreh- und Angelpunkt all meiner Phantasien war der Gutsherr,
und heute hat er sich den ganzen Tag lang nicht blicken lassen und nur höflich
mitgeteilt, daß ihm ein wenig unwohl sei. Vielleicht war der Kaviar zuviel für
ihn; ich kann mir nicht vorstellen, daß Kaviar zum

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