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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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gewöhnlichen Speiseplan von
Erchany gehört. Dieses Abendessen war und bleibt mir ein Rätsel. Ich denke mir,
Erchanys Variante des gemästeten Kalbs wäre ein Kanincheneintopf – und warum
das Kaninchen in den Topf tun, wenn kein verlorener Sohn in Sicht ist? Weil Sybil
vielleicht, ohne daß sie es weiß, eine verlorene Cousine fünften Grades ist?
Gewiß nicht. Oder zu Ehren des Lieblings-Großneffen des lasterhaften Horatio?
Wiederum gewiß nicht.
    Man hat uns beide, Sybil und mich, ganz uns selbst überlassen.
Christine führte den Vorsitz bei zwei Mahlzeiten – schlichte Kost diesmal – und
verließ uns dann unter Berufung auf nicht näher beschriebene Pflichten, die sie
zu erfüllen habe. Nach dem Frühstück führte sie uns ins oberste Stockwerk in
eine Art Galerie, wo zahlreiche tote Guthries an den Wänden hängen und
theologische Totgeburten in den Regalen modern, und forderte uns mit etwas, was
ich nur Boshaftigkeit nennen kann, auf, uns Bücher zum Lesen auszusuchen; nach
dem Mittagessen geleitete sie uns in ein Billardzimmer, zog das Tuch von genau
jenem Tisch, der, darf man vermuten, schon Noah dazu diente, sich die müßigen
Stunden zu vertreiben, und sagte: Amerikanerinnen spielten doch alle, nicht wahr?
Es waren übermütige, geradezu phantastische Spielereien; der Teufel oder ein
Engel ist heute in Christine gefahren; mit ihren Ängsten – sofern ich sie mir
nicht ohnehin nur eingebildet habe – ist es vorbei. Und auch bei Tage ist sie
eine Schönheit.
    Sybil und ich spielten also Billard. Queues gibt es keine, an einem
Ende fehlt die Tasche, und von dem Tuch, das Generationen von Motten zur
Nahrung gedient hat, ist nicht mehr viel übrig; und doch haben wir, in unsere
Mäntel gewickelt, eine Art Billard gespielt und dabei unseren Spaß gehabt. Mrs.   Hardcastle brachte uns zwei große Tassen gräßlichen Tees und stand ungefähr
eine halbe Stunde dabei und lauschte dem Klicken der Kugeln, als sei’s das
Radio. Wir haben uns sogar ein wenig mit ihr unterhalten – der Dank gebührt
Sybil, die spürte, daß die alte Seele wohl gern ein Schwätzchen wollte, und die
Initiative ergriff.
    »Haben Sie oft Gäste auf Erchany, Mrs.   Hardcastle?«
    Mrs.   Hardcastle machte ein verdutztes Gesicht. »Wie bitte, Miss?«
    »Ich meine, kommen öfter andere Besucher her?«
    Silbe um Silbe verarbeitete Mrs.   Hardcastle das. Dann schüttelte sie
mit Entschiedenheit den Kopf. »Der Herr ist sehr geizig.« Sie nickte mit einer
Art düsterer Genugtuung. »Weit und breit werden Sie kaum einen finden, der
geiziger ist als Guthrie auf Erchany.«
    Das war ein Thema, das man kaum mit Anstand weiterverfolgen konnte – obwohl Mrs.   Hardcastle ganz den Eindruck machte, als sei es für ihre Begriffe
eine große Ehre für ihr Haus. Sybil mühte sich gerade, etwas anderes
aufzubringen, als die Alte ihre Stimme zu einem heiseren Flüstern senkte und
erklärte: »Das sind die Ratten!«
    »Die Ratten, Mrs.   Hardcastle?«
    »Die Guthries haben schon immer ihre düsteren Phantasien gehabt. Er
glaubt, daß die Ratten ihn auffressen – ihn und alles, was ihm gehört. Er ist
so geizig, weil er denkt, damit kann er sich gegen die Ratten wehren. Sie
werden es wissen – es gibt bestimmt viele Orte, wo es überhaupt keine Ratten
gibt – Inseln und dergleichen?«
    Verlegen beeilten wir uns, ihr das zu bestätigen.
    »Sie sollten ihn von hier fortbringen, auf eine Insel. Das habe ich
auch den Ärzten gesagt, als sie hier waren. Dann könnte er nachts schlafen, und
es ginge ihm wieder gut, dem armen Mann.«
    »Sie meinen, Mr.   Guthrie macht sich große Sorgen wegen der Ratten?«
fragte Sybil ein wenig linkisch.
    Wiederum bestätigte Mrs.   Hardcastle es mit ihrem energischen,
senilen Nicken. »Und er gibt sein Geld nicht für Gift aus. Er sagt, er macht es
lieber mit dem kleinen Federmesser.«
    Nun singen die schottischen Balladen von so vielen Unholden, die so
unglaubliche Schandtaten mit dem kleinen Federmesser begehen, daß ich den
Verdacht hatte, der Gutsherr habe sich da einen kleinen literarischen Scherz
erlaubt. Doch mit allem Ernst fuhr Mrs.   Hardcastle fort: »Sehr geschickt wirft
er das Messer. Und wie die Biester dann quietschen!«
    Unerfreulich, dachte ich, welch perverse Formen die Jagdleidenschaft
des Landadels annehmen konnte: mir wurde zusehends unwohler bei Mrs.   Hardcastles Vertraulichkeiten. Doch Sybil war ganz Ohr. »Er spießt die Ratten
auf?«
    »Genau. Und jetzt hat er ein Beil. Gestern war er

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